STRIVE: Du hast ein Buch über Female Rage, also weibliche Wut, geschrieben. Was verstehst Du darunter und warum braucht es dieses Buch?
Tara-Louise Wittwer: Ich denke, dass Female Rage eine andere Wut ist als einfach nur „Wut“. Es ist eine transgenerationale Erfahrung, weitervererbte Wut über Jahrhunderte, Jahrtausende des Nicht-Gesehen-Werdens. Eine kollektive Erfahrung des Nicht-Ernstgenommen-Werdens, Nicht-Gehört-Werdens. Wenn ich über die Straße gehe und einer Frau entgegenkomme und sich unsere Blicke streifen, dann weiß ich, einen Teil ihrer Realität habe ich auch erlebt. Wir alle kennen die selben Erfahrungen. Dann gibt es natürlich noch Marginalisierungsstufen, die ich nicht nachempfinden kann. Aber der Kern der Misogynie, den verstehen wir alle, das ist unsere erlebte Realität und die unserer Mütter und denen davor.
Gibt es eine bestimmte persönliche Erfahrung, die Dich inspiriert hat, Dich mit dem Thema zu beschäftigen?
Ich glaube, es waren viele Mikrosituationen. Ich solle mehr lächeln. Ich solle nicht so hysterisch sein. Ich solle leiser sein. Kleiner. Platz machen, für andere und andere, das waren Männer. Ich sollte weniger sein und war nicht bereit, weniger zu werden.
Dieses Gefühl kennen viele Frauen, doch unterdrücken sie Wut häufig. Warum ist es Dir so wichtig, weibliche Wut sichtbarer zu machen?
Männer bedienen sich an Wut, weil sie sie gepachtet haben. Männliche Wut wird als Dominanz erkannt und gelobt: „Toll, passioniert ist der!“. Männliche Wut ist ein Privileg, auf das Frauen keinen Zugriff haben. Umso wichtiger ist, dass weibliche Wut sichtbarer und ausgedrückt wird. Sie existiert und hat natürlich ihre Daseinsberechtigung.
Wann warst Du selbst das letzte Mal so richtig wütend? Und: Hast Du das offen gezeigt?
Nein, ich zeige es nicht offen. Das liegt aber daran, dass ich versuche, mich zu kontrollieren. Kontrolle heißt aber nicht, dass ich Dinge wegignoriere, sondern einfach anders ausdrücke. Ich spreche darüber und benenne es klar, schreie aber nicht dabei rum. Das habe ich sehr lange gemacht und gemerkt, dass ich so nicht weiterkomme.
Der Umgang mit Wut war also auch für Dich ein Prozess.
Natürlich ist Wut zeigen und ausleben gut, aber es muss - zumindest habe ich das für mich selber entschieden - in einem Rahmen passieren. Ich bin aber ehrlich: Wenn eine Frau sich dazu entscheidet, ihre Wut viel expressiver auszudrücken, dann bin ich die erste, die das unterstützt. Wut kommt in Nuancen und Lautstärken und alle haben ihre Berechtigung und auch die Art, wie man Wut ausdrückt, verändert nicht die Aussage der getätigten Worte. Tone Policing akzeptiere ich in keinster Weise.
Erinnerst Du Dich an den Moment, in dem Du Deine Wut erstmals als etwas Wertvolles empfunden hast?
Ja, während des ganzen Schreibprozesses und jedes Mal, wenn ich für Freundinnen aufgestanden bin. Ich hab mir Positionen und Gehör erkämpft, Schmerzensgeld, Abfindungen. Alles. Weil ich wütend war und diese Wut berechtigt war.
Wenn wir auf den Jobkontext gucken: Wie viel Wut ist noch professionell und inwiefern kann Wut auch im Beruf hilfreich sein?
Ich möchte nicht die Wut anderer Leute bewerten, aber ich denke, dass wir Wut kanalisieren müssen, um Dinge zu erreichen, die wir sonst nicht bekommen würden. Oft gehen Männer mehr mit einer Selbstverständlichkeit an Dinge heran, die Frauen verwehrt bleibt. Da hilft ein wenig Wut immer gut.