Kristina Kreisel

vor 19 Tagen

8 Min. Lesedauer

Warum wir oft die falschen Mitarbeitenden einstellen

Jede:r zweite Deutsche hat einen neuen Job schon mal im ersten Jahr gekündigt. Schuld an jedem dritten schnellen Exit: die Teamkultur. Wie Führungskräfte die richtigen Mitarbeitenden finden und wie KI dabei helfen kann, erklärt Gründerin Dr. Annika von Mutius im STRIVE-Interview.

Warum wir oft die falschen Mitarbeitenden einstellen
"Viele Recruiter:innen betrachten nur die fachliche Qualifikation. Doch der Person-Organisation-Fit ist überaus relevant", sagt Dr. Annika von Mutius | Foto: Patrycia Lukas

STRIVE: Mehr als 40 Prozent der angestellten Deutschen denken über einen Jobwechsel nach. Gleichzeitig hat jede:r Zweite schon mal im ersten Jahr in einer neuen Firma gekündigt. Woher kommt diese Fluktuation?

 

Dr. Annika von Mutius: Unseren Daten nach besteht eine enge Korrelation zwischen frühzeitigen Kündigungen und der kulturellen Passung. Viele Recruiter:innen betrachten nur die fachliche Qualifikation. Doch der Person-Organisation-Fit ist überaus relevant. Wird dieser vernachlässigt, bleibt oft nicht nur die Zufriedenheit, sondern auch die Leistung hinter den Erwartungen zurück.

 

Erstaunlich ist: Viele Firmen sind sich ihrer eigenen Kultur nicht bewusst und befinden sich derzeit in einem Transformationsprozess. Ihre Intention besteht nicht unbedingt darin, Profile einzustellen, die der aktuellen Belegschaft ähneln, sondern Menschen, die ihnen helfen, sich in eine neue Richtung zu entwickeln. Diese Transformations-Prozesse sollten Unternehmen transparent kommunizieren, um neue Mitarbeitende nicht sofort wieder zu verlieren. Ähnliche Unklarheit besteht aber auch auf Seiten der Bewerbenden.


Weil auch Bewerbende ihre Bedürfnisse in Sachen Kultur nicht kennen?

 

Richtig. Viele Bewerbende wissen nicht wirklich, was sie wollen. Sie setzen sich weder mit ihren Persönlichkeitseigenschaften auseinander, noch mit den Erwartungen, die sie an einen Arbeitgeber haben. Das hängt auch mit der Situation am Arbeitsmarkt zusammen. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass sich der Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt drehte.

 

Es gibt deutlich mehr offene Stellen als Menschen, die auf Jobsuche sind.

 

Genau. Wenn ich zum Beispiel nach einer Stelle als Kundenberater:in in Berlin suche, erhalte ich auf gängigen Jobportalen mehr als 7.000 Treffer. Dieses Überangebot überfordert die meisten Menschen und lässt eine Beschäftigung mit den eigenen Wertvorstellungen und Bedürfnissen auf den ersten Blick irrelevant erscheinen. Es scheint so, als gäbe es unendliche viele Stellenangebote. Ob die Werte und Einstellungen von Bewerbenden neben der fachlichen Eignung wirklich zum Unternehmen passen, ist häufig reiner Zufall. Insbesondere da das menschliche Urteilsvermögen nicht objektiv ist – erst recht nicht im eher unnatürlichen Setting eines Vorstellungsgesprächs.

 

Um die richtigen Kandidat:innen zu finden, ist es darum wichtig, die Masse an Stellenanzeigen auf der einen Seite und die Anzahl der Bewerbenden auf der anderen Seite zu reduzieren und zu individualisieren. Unsere Daten zeigen, dass eine Reduktion der Jobangebote von sieben auf drei zu einer Erhöhung der Einstellungsquote von 20 Prozent führt.

 

| Foto: Patrycia Lukas

Wie kann KI dabei helfen?

 

Theoretisch können KI-Systeme den kompletten Recruiting-Prozess übernehmen. Sie analysieren, welche Eigenschaften für die Besetzung einer Stelle ideal sind, wie potenzielle Bewerber:innen erreicht werden und wie sie bevorzugt angesprochen werden wollen. Jedoch: In der Realität stehen wir bei der Anwendung von KI im Recruiting noch ganz am Anfang.

 

Warum?

 

Es gibt regulatorische Hürden, die teilweise zwar nachvollziehbar, in Teilen aber überreguliert sind und dadurch hemmend wirken. Das führt dazu, dass KI im Personalbereich im Vergleich zu anderen Branchen wenig eingesetzt wird. Die KI-Adoption Rate, also die Anwendungsquote, liegt hier noch auf dem Niveau des Fintech-Sektors von vor sieben Jahren.


Einige Personaler:innen stehen KI-Tools weiterhin skeptisch gegenüber, was zu signifikantem ungenutzten Potenzial führt: Zum einen werden Talente eingestellt, die kulturell nicht ins Unternehmen passen und es schnell wieder verlassen. Zum anderen verschwenden viele HR-Abteilungen unnötig hohe Ressourcen im Recruiting.


An welcher Stelle zum Beispiel?

 

Konkret kann eine KI den Recruiting-Prozess drastisch beschleunigen und effizienter gestalten. Während ein klassischer Headhunting-Prozess mathematisch gesehen bis zu 100.000.000 Interaktionsmöglichkeiten umfasst, ermöglichen KI-Systeme, diese Komplexität auf nur acht bis zwölf individualisierte und gezielte Fragen zu reduzieren.


Das heißt: Wir können mit einer sehr kleinen Anzahl KI-generierter Fragen die ideale Passung zwischen Bewerbenden und Unternehmen herausfinden. Dabei verwenden wir sowohl prädiktive Systeme, also Algorithmen, die auf Basis statistischer Analysen Muster erkennen und Ereignisse vorhersagen können, als auch generative KI-Modelle, die unter vollständiger Berücksichtigung individueller Bedürfnisse die optimalen Fragen für eine:n Kandidat:in entwickeln. Dadurch lässt sich die Zahl der Gespräche für Personaler:innen auf ein Mindestmaß reduzieren, während sich die Anteil geeigneter Kandidat:innen im Bewerbenden-Pool deutlich erhöht.


Wie können Führungskräfte noch checken, ob Kandidat:innen in ihr Team passen?

 

Ich kann das Arbeiten mit Scorecards sehr empfehlen. Das Bewerten von Bewerbenden anhand standardisierter Kriterien hilft in meinen Augen, schnellere und bessere Entscheidungen zu treffen. Die entscheidende Frage ist, wie man einzelne Kriterien testet. Dafür hilft es, sich ein grundlegendes psychologisches Verständnis anzueignen, um die individuell wichtigen Komponenten in konkrete Fragen zu übersetzen. Auch da kann übrigens KI helfen.


Inwiefern?

 

Zum Beispiel kann man generative Systeme wie ChatGPT nutzen, um Interviewfragen sinnvoll zu entwickeln. Die richtigen Fragen zu stellen, ist zuweilen der wichtigste Teil beim Finden der richtigen Mitarbeitenden, vielleicht auch der Anspruchsvollste.

 

Darüber hinaus nutze ich sehr gerne klassische Case Studies. Diese haben nie mit der Tätigkeit selbst zu tun, sondern testen einzig Intelligenz. In der Vergangenheit verließ ich mich nicht immer auf die Ergebnisse, inzwischen lernte ich jedoch, dass diejenigen, die hier gut abschneiden, auch meist diejenigen sind, die im Job gut wurden und geblieben sind. Viel wichtiger als die korrekte Lösung ist mir übrigens, wie die Bewerbenden auf mich und das Problem eingehen, wie reflektiert sie sind, wie stark sie sich und ihr Verhalten hinterfragen. Das korreliert meiner Erfahrung nach sehr stark mit der Intelligenz einer Person.

 

 

Zur Person:

Dr. Annika von Mutius (31) ist promovierte Mathematikerin und Co-Gründerin von Empion. Das HR-Startup will vor allem mittelständische Unternehmen mittels KI dabei unterstützen, die richtigen Mitarbeitenden zu finden – und umgekehrt. Seit Oktober 2024 ist von Mutius zudem Vorständin im KI-Bundesverband.

 

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