Wie bekommen wir Vereinbarkeit endlich besser hin? Eines von vielen Puzzleteilen, das dabei helfen soll, ist bei Unternehmerin Michèle Czarnecki: keine Termine mehr vor 10 Uhr. Warum sie die Regel für sinnvoll hält und inwiefern sie vor allem Eltern entlasten soll, erklärt sie in ihrem Gastbeitrag.
Michèle Czarnecki
26. Mai 2025
Warum ich Termine vor 10 Uhr abgeschafft habe

Viele Unternehmen setzen auf Flexibilität. Aber ich finde: Sie setzen sie falsch an. Denn während wir alle über New Work sprechen, beginnt der Arbeitstag in vielen Kalendern immer noch so wie vor 20 Jahren: mit einem 9-Uhr-Termin. Fix. Ohne Fragezeichen.
Für viele Eltern ist das ein Problem. Denn zwischen 6.30 Uhr und 8.30 Uhr läuft bei ihnen zuhause oft schon ein halber Tag.
Zwischen Brotdose und Business liegt ein Spagat
Ich selbst bin Mama von zwei Kindern. Und als Co-Founderin einer Software- und KI-Agentur bis heute in operativen Prozessen, aber auch in allen Fragen rund um People & Culture verankert – nicht nur beruflich, sondern auch privat. Zweiteres sieht manchmal in etwa so aus:
6.45 Uhr: Ein Kind wird spontan krank. Beim anderen fehlt die Sporttasche. Und plötzlich mag es auch kein Brot mehr, sondern viel lieber irgendetwas anderes. Was genau? Das weiß das Kind selbst nicht.
8.15 Uhr: Das gesunde Kind ist in der Schule abgeliefert. Noch immer ohne Kaffee sitze ich im Auto und werde von einem Verkehrsteilnehmer angehupt, weil ich eine Sekunde zu spät an der Ampel losfahre.
Ich bin spät dran. Denn: Um 09.00 Uhr habe ich den ersten Call.
Wie durch ein Wunder schaffe ich es, um 08.59 Uhr am Schreibtisch zu sein. Ich bin im Call. Pünktlich. Ich bin da – und trotzdem noch nicht angekommen.
Vereinbarkeit beginnt nicht mit Feel-Good-Maßnahmen
Deshalb haben wir bei uns in der Firma eine einfache Regel eingeführt: keine Termine vor 10.00 Uhr. Außer (!) es wird vorher ausdrücklich abgesprochen.
Nicht, weil wir alle Langschläfer sind. Sondern weil wir Vereinbarkeit ernst meinen. Weil wir Raum schaffen wollen für einen klaren Start in den Tag (statt eines kalten Starts aus dem Schulparkplatz direkt in die Agenda).
Strukturen sagen mehr als Worte
Denn es ist doch so: Wenn wir über „People first“ sprechen, dann reicht es nicht, nette Formulierungen auf die Karriereseite zu schreiben. Dann müssen wir uns auch mit solchen Fragen beschäftigen:
- Wann legen wir Meetings?
- Wer kann da überhaupt schon mit vollem Fokus teilnehmen?
- Wie viel Rücksicht nehmen wir auf unterschiedliche Lebensrealitäten?
Ich wünsche mir, dass mehr Unternehmen diese Fragen stellen. Und dass wir aufhören, frühe Termine als „normal“ zu behandeln, wenn sie in Wirklichkeit ein systemisches Ausschlusskriterium für Eltern sind. Denn echte Vereinbarkeit bedeutet: nicht trotzdem arbeiten, sondern genau deshalb anders arbeiten.
Der Kalender ist politisch – und verdammt wirksam
Manchmal reicht eine simple Regel, um einen Unterschied zu machen. Für Eltern. Für Teams. Für Unternehmen. Deshalb mein Appell an alle, die mit Menschen arbeiten: Stellt Zusammenarbeit so auf, dass sie für alle funktioniert. Nicht nur für die, die morgens um 7 Uhr schon im Tunnel sind. Denn Vereinbarkeit beginnt nicht mit Elterngeld. Sie beginnt im Kalender.
Zur Person
Michèle Czarnecki (40) ist Co-Gründerin und Prokuristin der Software- und KI-Agentur NanoGiants. Ihr Herzensthema: Unternehmens- und Führungskultur sowie echte Vereinbarkeit. Sie lebt in Düsseldorf und ist Mutter zweier Kinder.