Die Zukunft ist MINT
STRIVE+ Das Bild, dass Tech-Genies weiß und männlich sind, hat sich in unser Bewusstsein eingeprägt – ist aber überholt. Auch, weil selbst die größten Digital-Visionäre für wichtige Probleme unserer Zeit keine Lösungen gefunden haben. Genau hier tun sich Marktlücken auf und Chancen für Frauen entstehen. Nach wie vor streben sie aber noch immer zu zögerlich in die entsprechenden Berufe. Wie bekommen wir endlich mehr Mädchen in die MINT-Fächer?

Die Geburt ihrer Tochter, sagt Kenza Ait Si Abbou (40), habe sie entschlossener werden lassen. „Mir wurde klar: Ich muss jetzt noch mal eine Schippe drauflegen“, sagt die prominente Expertin für Zukunftstechnologien. „Wir sind gerade an einem ganz entscheidenden Punkt, an dem wichtige Weichen für die Zukunft unserer Gesellschaft gestellt werden“, sagt sie.
„Die Welt kann nicht so bleiben, wie sie ist. Sie muss sich verändern. Technik wird dabei eine entscheidende Rolle spielen. Aber wer wird bei diesen Veränderungen das Tempo und die Richtung vorgeben? Darauf kommt es jetzt an.“
32% der Absolvent:innen von MINT-Fächern in Deutschland sind Frauen. (Quelle: Komm, mach MINT)
Eigentlich ist Ait Si Abbou mit ihrer Karriere ein Beispiel dafür, dass bereits einiges in Bewegung ist. Die in Marokko geborene Ingenieurin und Elektrotechnikerin ist eines der bekanntesten Gesichter der deutschen Tech-Branche: Als leitende Ingenieurin für Robotik und Künstliche Intelligenz bei der Telekom hat sie einen Vorzeige-Aufstieg geschafft. Als Mentorin und Role Model engagiert sie sich dafür, junge Mädchen für MINT-Berufe zu begeistern. Ihr Buch „Keine Panik, ist nur Technik“ ist ein Bestseller. Eine Karriere wie ihre – als Frau mit Wurzeln in einem nordafrikanischen Land, mit einem wenig geradlinigen Lebenslauf – war in der hiesigen Tech-Szene noch vor gar nicht allzu langer Zeit undenkbar. Und Ait Si Abbou ist bei Weitem nicht die einzige selbstbewusste Expertin, die mit dem gewohnten Bild des weißen, männlichen IT-Nerds bricht. Neben ihr ist in Deutschland vor allem auch die Informatikerin Julia Kloiber (35) bekannt, die sich mit ihrem feministischen "Thinktank Superr Lab für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt. Und natürlich die erfolgreiche Coderin und Gründerin Aya Jaff (26), die als umtriebige Autodidaktin gerade zum jungen Star der Branche aufsteigt und sich vor allem für Nachhaltigkeit und die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen engagiert. Beide bringen genau den frischen Wind mit, den die Tech-Szene dringend braucht.
26% der Absolvent:innen von MINT-Fächern weltweit sind Frauen. (Quelle: Universities & Colleges Admissions Service (UCAS))

Wenn Mädchen und junge Frauen nach weiblichen Vorbildern Ausschau halten, die sich selbstbewusst in der Tech-Welt bewegen, müssen sie also eigentlich nicht lange suchen. Doch die mediale Sichtbarkeit der Vorzeige-Tech-Frauen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Branche in der Breite noch immer männlich dominiert ist. „Wenn ich um mich herumschaue, dann ist da weiter viel zu wenig Diversität in den technischen Studiengängen, in Entwicklungs- und Forscherteams, im Management von Tech-Unternehmen“, sagt Ait Si Abbou. Studien belegen, dass dieser Befund mehr ist als nur das Bauchgefühl einer erfolgreichen Insiderin: Gerade einmal 16 Prozent der technischen Fachkräfte in der IT-Branche sind weiblich. Das Karrierenetzwerk LinkedIn listet in Deutschland 143.000 Expert:innen für das Zukunftsthema Künstliche Intelligenz auf – nur 21 Prozent von ihnen sind Frauen. Wenig deutet darauf hin, dass sich das bald ändert: Schreiben Unternehmen offene Stellen für Programmierer:innen und IT-Expert:innen aus, sind unter den Bewerber:innen durchschnittlich nur zehn bis 20 Prozent Frauen, zeigt eine aktuelle Studie des Instituts für Innovation und Technik Berlin. Die Zahl der weiblichen Informatik-Studierenden stagniert seit Jahren bei rund 25 Prozent. Auch in der jüngsten Generation bleibt das Muster bestehen: Laut der aktuellen Pisa-Studie ist „IT-Spezialist“ einer der am häufigsten genannten Berufswünsche der männlichen Schüler. In den Top zehn der Schülerinnen taucht dieser Berufswunsch gar nicht erst auf.
16% macht der Frauenanteil hierzulande in der IT-Branche aus. (Quelle: Institut für Innovation und Technik Berlin)
Tatsächlich beginne das Problem der fehlenden Tech-Frauen „ganz früh, schon dabei, wie kleine Mädchen in ihren Familien und in den Schulen an diese Themen herangeführt werden“, sagt Ait Si Abbou. „Wir haben uns über so viele Generationen daran gewöhnt, dass weiße Männer in Wissensgebieten wie Mathe, IT, Technik, Physik, Chemie den Ton angeben, dass es wahnsinnig schwer ist, das aus den Köpfen wieder rauszubekommen.“ Dabei waren es gerade in der Anfangszeit der IT-Branche oft Frauen, die bahnbrechende Erfindungen machten und damit die technologische Entwicklung vorantrieben – wie etwa Ada Lovelace, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Programmieren erfand. Oder Radia Perlman, die bereits Ende der 1980er-Jahre jene Algorithmen entwickelte, die das Internet in seiner heutigen Form überhaupt erst möglich gemacht haben.
„Wir haben uns über Generationen daran gewöhnt, dass weiße Männer bei Technik den Ton angeben.“ - Kenza Ait Si Abbou
Auch aktuell stecken wir wieder in einer Zeit der technologischen Durch- und Umbrüche: Künstliche Intelligenz, Robotik, Neuroscience und Blockchain-Technologien treiben Innovationen voran, die Wirtschaft und Gesellschaft erneut tiefgreifend verändern werden. Eine neue Generation von Tech-Pionierinnen ist gefragt, diese Veränderungen mitzugestalten: „Wir müssen jetzt ganz genau darauf schauen, wer die Technologien für diese neue Ära entwickelt und wer die Entscheidungen darüber trifft, wie sie eingesetzt werden sollen“, sagt Ait Si Abbou. „Denn sonst replizieren all die Algorithmen, all die neuen Maschinen letztlich nur die alte, vordigitale Welt mit all ihren Strukturen, Prozessen und Denkweisen.“ Welche Folgen das hätte, lässt sich heute schon beobachten: etwa dann, wenn Gesichtserkennungs-Software nur weiße Gesichter und selbstfahrende Autos nur weiße Menschen zuverlässig erkennen. Wenn Spracherkennungs-Assistenten vor allem auf männliche Stimmen hören. Oder wenn die Algorithmen von Finanzdienstleistern Frauen grundsätzlich als weniger kreditwürdig einstufen als Männer.
Anders sein ... ... anders denken: Das ist für Lisa Gelobter (50), Informatikerin und Gründerin der USTech-Plattform tEQuitable, daher gerade jetzt die größte Stärke von Frauen und von Menschen mit diversem ethnischem Hintergrund in der Technologie-Branche. „Es dreht sich in unserer Branche leider immer noch alles um die Vergötterung des weißen, männlichen Techies“, sagt die Amerikanerin. Gelobter selbst arbeitet bereits seit mehr als 20 Jahren in der Tech-Industrie, unter anderem war sie Chief Digital Officer für das US-Bildungsministerium im Weißen Haus unter Barack Obama. „Die ersten 20 Jahre meines Berufslebens hatte ich weder eine Frau noch eine Schwarze Person als Vorgesetzte“, sagt Gelobter. Erst seit etwa fünf Jahren sehe sie Anzeichen dafür, dass die Debatte um mehr Diversität in Politik und Tech etwas bewirke.
Damit dieser Trend an Schwung gewinnt und mehr Frauen MINT-Berufe ergreifen, sollte man laut Gelobter möglichst früh damit anfangen, Mädchen die Angst vor Fächern wie zum Beispiel Informatik zu nehmen. „Gerade in der heutigen Zeit sollten die Computerwissenschaften genauso selbstverständlich zum frühen Bildungsweg gehören wie Mathe, Lesen und Schreiben“, sagt sie. Auch Role Models seien wichtig, betont sie. Ihre Mutter stammt aus der Karibik, ihr Vater ist ein polnischer Holocaust-Überlebender. „Du kannst nicht werden, was du nicht siehst“, sagt Gelobter. „Als Schwarze Frau in der Industrie zu arbeiten, das war für mich immer herausfordernd“, erklärt sie. „Du hast das Gefühl, dass du nicht dazugehörst, dass du keiner von ihnen bist. Und dass Computer und Software nur etwas für diesen ganz speziellen Club von Leuten sind, die sich in einer ganz bestimmten Weise verhalten, auf eine bestimmte Art und Weise aussehen, ein bestimmtes Geschlecht und eine bestimmte Herkunft haben.“
„Programmieren ist wie Abendessen vorbereiten. Man muss alles so terminieren, dass es fertig ist, wenn man es braucht.“ - Grace Hopper, 1967
Wo weibliche Vorbilder fehlen ...
... brauchen Mädchen und Frauen ein sehr starkes Selbstbewusstsein, um dennoch an ihre Talente zu glauben und unbeirrt an ihren Interessen und Ideen festzuhalten. Das MINT-Nachwuchs-Barometer der Körber-Stiftung zeigt: Obwohl die Leistungen von Mädchen in MINT-Fächern gar nicht schlechter sind als die der Jungen, ist ihr Selbstbewusstsein, in diesen Fächern „gut“ zu sein, viel geringer ausgeprägt. Es ist für sie weniger selbstverständlich, sich MINT-Kompetenzen zuzutrauen. Die Wurzeln dafür werden sehr früh gelegt. Studien belegen: Schon in der Kindheit müssen Mädchen ein Gefühl dafür entwickeln, dass es normal und richtig ist, sich für technische und naturwissenschaftliche Themen zu interessieren, damit sie sich selbst später auch in entsprechenden Berufen vorstellen können. Robotik-Expertin Ait Si Abbou etwa kannte es nicht anders: „In Marokko gelten Mathe und naturwissenschaftliche Fächer, anders als in Deutschland, nicht als typisch männlich“, erklärt sie. „Wenn du gut bist in Mathe, darfst du auch als Mädchen weiter Mathe lernen und wirst darin bestärkt.“

Bei Gelobter war es ähnlich. Vor allem ihr Vater habe sie schon von Kindesbeinen an motiviert, gut in Fächern wie Mathe und Naturwissenschaften zu sein, erzählt sie. Tatsächlich legt eine Studie der University of British Columbia den Schluss nahe, dass Väter generell einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, ihre Töchter für Tech-Themen zu begeistern und die althergebrachten Vorstellungen von typischen Frauen- und Männer-Berufen aufzubrechen. Wenn die Väter sich weniger nach stereotypen Rollenbildern verhalten, ergreifen ihre Töchter seltener einen nach traditionellem Verständnis typischen „Frauenberuf“ wie Krankenschwester oder Grundschullehrerin. Und eine deutsche Studie kam zu dem Ergebnis: Mehr als zwei Drittel der Studentinnen, die sich für ein MINT-Fach entscheiden, haben sich dabei an ihrem Vater orientiert, der ebenfalls in einen MINT-Fach studiert und einen entsprechenden Beruf ergriffen hat.
Wir müssen jetzt ganz genau darauf schauen, wer die Technologien für diese neue Ära entwickelt.“ - Kenza Ait Si Abbou
Andrea Martin ...
... würde nicht sagen, dass ihr Vater der Grund war für ihre Berufswahl. Tatsache ist aber, dass er sein Leben lang als Informationstechniker bei IBM gearbeitet hat – wo später auch seine Tochter Karriere machte. Sie war mehrere Jahre lang Chief Technology Officer (CTO) für IBM in der DACH Region und leitet heute das IBM Watson Center in München.
Martin ist optimistisch, dass die Branche bald diverser sein wird. Und zwar selbst dann, wenn es nicht deutlich mehr Ingenieurinnen geben wird. „Ich bin davon überzeugt, dass wir automatisch mehr Frauen in die Tech-Unternehmen bekommen werden in den nächsten Jahren. Selbst dann, wenn sich an den Quoten in den MINT-Studiengängen nicht so viel tut“, sagt Martin. Denn die IT verändere sich gerade massiv, viele Probleme könne man nicht mehr rein technisch lösen. „Wir müssen immer stärker interdisziplinär arbeiten. Das bedeutet: Wir brauchen in unseren Teams die Expertise von Ethiker:innen, Psycholog:innen, Finanzexpert:innen, von Linguist:innen oder Designer:innen.“ Damit werde die Branche generell offener und bunter, „und viele Berührungsängste auch von Frauen mit Technikthemen werden dabei verschwinden.“
Über Aya Jaff:
Aya Jaff hat sich das Coden selbst beigebracht – inzwischen zählt die Gründerin zu den Stars der Szene. Sie engagiert sich für Nachhaltigkeit und die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen. Ihr Buch „Moneymakers. Wie du die Börse für dich entdecken kannst“ erschien 2020 im Finanzbuch Verlag.
Über Kenza Ait Si Abbou:
Kenza Ait Si Abbou ist Ingenieurin und Elektrotechnikerin und war bis vor Kurzem Managerin für KI und Robotik bei der Telekom. Ihr Buch „Keine Panik, ist nur Technik“ ist ein „Spiegel“- Bestseller. Sie lebt in Berlin und ist Mutter von zwei Kindern. Seit Anfang November ist Kenza Ait Si Abbou als Data and AI Business Development Executive bei IBM
Über Julia Kloiber:
Die Informatikerin Julia Kloiber ist Gründerin des feministischen Thinktanks Superr Lab – und setzt sich für Gleichberechtigung in der Digitalbranche ein.