Was aber bedeutet diese neue Realität für die „alte Welt“ und alle, die nicht mit ihr vertraut sind?
Viel. Es gibt viel zu lernen und viel zu beachten. Sind Sie bereit? Sollten Sie sein. Die Gender-Diskussion hat gerade erst begonnen und wird vor keiner Tür Halt machen. Eine ganze Generation – entsprungen aus den Gen Zʼs – fordert einen neuen Umgang mit Produkten, mit der gesamten Konsumwelt, dem öffentlichen und damit gesellschaftlichen Normativ.
Es beginnt bei der Forderung einer korrekten Ansprache, beschäftigt sich mit dem existierenden Konsum-Angebot und endet mit der Frage nach der Wahl der richtigen Toilette.
Komplex und kompliziert? Ja und nein. Ja, weil es für einige ein Umdenken bedeutet, ein Loslassen starrer und alter Strukturen und Weltanschauungen. Und nein, weil es für viele Branchen eine große Chance ist, diesen Hunger und diese Anforderungen auf einfache Art und Weise zu stillen: durch Zuhören.
Smarte Vorreiter finden wir in der Mode-Industrie. Von Shop-Konzepten bis Kategorie- Benennungen: Der gender-freie Umgang eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, viele nennen es Revolution. Anstatt, wie gelernt, Männer- und Frauen-Kollektionen zu entwerfen, kreieren einige Designer geschlechtsneutrale Kollektionen. Alle zudem nachhaltig, transparent und sogar kosteneffizient produziert. Sie reagieren damit clever auf mehrere Gen Z-Forderungen: gender-free, less-is-more und values- first. Punktlandung.
Mode-Dinosaurier Gucci präsentiert eine neue geschlechtsneutrale Sektion auf der Website und landet mit Gucci MX einen Crossgender-Supercoup. Herzogenaurachs Traditionsmarke Nummer Eins überzeugt mit dem ersten gender-neutralen Adidas-Store – mitten im Londoner Soho-Bezirk und beweist damit, wie unaufgeregt, unkompliziert und modern geschlechtsneutrales Verkaufen sein kann. Und auch die politisch und ökologisch korrekt produzierende Stella McCartney zieht mit. Die britische Designerin erobert nun die geschlechtsneutrale Käuferschaft mit Prints und Gemütlichkeit. Die Liste der schlauen Geschäftsmodelle ist in der Fashion-Branche lang und – Überraschung – sie wächst.
Also schauen wir hin und lernen wir. In den nächsten Jahren kommen nämlich auf alle Branchen die genderneutralen Herausforderungen zu. Es wird anders und nicht weniger bürokratisch: Nach der deutschen Arbeitsstättenverordnung müssen Betriebe getrennte Toiletten für Männer und Frauen stellen. Was also passiert mit Mitarbeitenden, die sich als intergeschlechtlich einstufen? Wie formuliert man Stellenausschreibungen korrekt und divers? Wie spricht man diese Mitarbeitenden korrekt an?
All das hat nichts mehr mit Höflichkeit zu tun, sondern wird Teil der Norm. Und auch die Medizin steht hier vor neuen Aufgaben. Wissen wir doch um die Bedeutung von Geschlechter- rollen für gesundheitsrelevantes Verhalten. So ist zum Beispiel zur Erklärung von Gesundheit und Krankheit das Geschlecht – neben Alter und sozialer Schicht – ein bedeutender Faktor. Frauen und Männer haben – nach bisherigen medizinischen Kategorien – unterschiedliche Risiken. Wird hier fortan nach dem Geschlecht kategorisiert, in das man hineingeboren wurde – ungeachtet dessen, was die Wahl-Identifikation nun preisgibt? Und wenn ja, wie findet die Kommunikation darüber statt? Was rufen die Ärzte:innen in Zukunft ins Wartezimmer? Wird es eine dritte Toilette für Patient:innen geben? Die Wahrheit ist auf den ersten Blick wenig befriedigend: Denn die Antworten werden noch gesucht.
Pluralismus gehört gefördert und Diversität ist eine Chance, die unsere Gesellschaft langsam annimmt. Zu langsam? An dieser Stelle muss man Aga Khan zitieren, den Vorsitzenden des Global Centre for Pluralism (GCP): „Die Arbeit des Pluralismus ist nie beendet. Diversität ist kein Grund, Wände hochzuziehen, sondern eher dafür, Fenster zu öffnen. Sie ist keine Last, sie ist ein Segen... Wenn die Frage der menschlichen Identität in diesem Kontext betrachtet wird, dann wird Diversität zum Geschenk.“
Unsere Gesellschaft wird differenzierter, weil sich strukturelle Unterscheidungen und Ungleichheiten der Lebenssituationen aller Geschlechter bemerkbar machen. Daraus können wir (zukunftsweisend) Schlüsse für ein gleichstellungsorientiertes Handeln ableiten, und das, ohne auf altbekannte Geschlechter-Stereotypen zurückzugreifen.
Soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und gesellschaftliche Partizipation sind die drei wichtigen Pfeiler der Demokratie. „Keiner wird zurückgelassen“ – erinnern Sie sich? Dieses Credo ziert seit jeher die ein oder andere liberale Ecke von Großstadtfassaden. Was also heißt das in der Konsequenz für die Geschlechter-Diskussion? So fluide wie der Geschlechts-Identifikationsprozess für die ist, die jetzt nach vorne treten und die freie Wahl einfordern, so zwingend ist auch der gesamte Lernprozess für alle anderen. Eines aber gilt geschlechtsübergreifend und ist vielleicht der älteste und beste Tipp, den man in dieser Zeit geben kann: unvoreingenommenes Reden hilft. Das offene Gespräch schlägt jede Unsicherheit.
Tatsächlich hat die Geschlechtswahl nichts mit sexueller Identität zu tun. Sie sagt nichts darüber aus, wen man sexuell attraktiv findet – aber alles darüber, wie man sich definiert. Einige erklären sogar, dass ihre persönliche Identifikation sich täglich, stündlich oder gar innerhalb von Minuten ändert. Es ist also an der Zeit, unsere binäre Brille abzulegen und Geschlechter-Stereotypen zu hinterfragen. Wir müssen sensibel werden und auch bleiben.
Die Genderfreie Zukunft ist für alle horizonterweiternd – und, wie gut: Sie hat längst begonnen.
Disclaimer: Dieser Artikel erschien zuerst in der Healthcare Bibel von health angels.
Agi Habryka arbeitet als Head of Content Strategy bei health angels und ist Expertin für digitale Konzepte, Brand Management, digitale Image-Kampagnen und Trend Research.