Daniel Schieferdecker

vor 9 Tagen

13 Min. Lesedauer

Musikindustrie im Wandel: Können Künstler:innen noch davon leben?

STRIVE+ | Auf sämtlichen Ebenen befindet sich die Musikbranche im Umbruch: Streaming, Social Media und Künstliche Intelligenz krempelten das Business in der letzten Dekade völlig um. Fragt sich: Wie geht es der deutschen Musikindustrie 2025 – und können die Künstler:innen heute überhaupt noch von ihrer Musik leben?

Musikindustrie im Wandel: Können Künstler:innen noch davon leben?
Foto: Priscilla Du Preez

Zweiundzwanzig Jahre ist es her, da hat die Hamburger Hip-Hop-Formation Beginner ihr Album „Blast Action Heroes“ veröffentlicht. Darauf war auch der Song „God Is a Music“, ein Liebeslied an die Musik – und damit auch an die Lebensgrundlage der drei Bandmitglieder DJMad, Denyo und Jan Delay. Wer den Track nicht kennt, er beginnt mit folgenden Worten: „Lieber Herr oder Frau Musik, ich möchte Ihnen von Herzen danken/da Sie irgendwann, irgendwie einmal das Allerderbste erfanden/Ihr Patent zeugt von Talent bedenkt man, was es für Früchte trägt/Denn Musik ist immer da, auch wenn alles andere in die Brüche geht.“ Mehr Liebe, Dankbarkeit und Hoffnung kann man der Musik kaum entgegenbringen. 

 

Allerdings ist in den vergangenen 22 Jahren viel passiert. Die Musikindustrie wurde einmal komplett auf links gekrempelt. Die CD, auf der das Album damals vorwiegend verkauft wurde, ist tot. Die Streaming-Portale, auf denen man sich den Song heute anhören kann, gab es noch gar nicht. Insofern: Ja, die Musik ist immer noch da. Aber es stellt sich trotzdem die Frage: Ist ihre unkaputtbare Allgegenwärtigkeit auch mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg gleichzusetzen?

 

| Conny Zhang ist Head of Music DACH bei Spotify. Ihr Arbeitgeber hält einen Marktanteil von etwa 31,7 Prozent der weltweiten Musikstreaming-Abonnements. Foto: Christoph Neumann

„Seit fünf Jahren wächst die deutsche Musikindustrie kontinuierlich. 2023 betrug der Gesamtumsatz 2,21 Milliarden Euro, das entspricht einem Plus von 6,3 Prozent“, sagt Georg Sobbe (54), Leiter Marktforschung und Entwicklung beim Bundesverband Musikindustrie. Die abschließenden Zahlen für 2024 lagen zum Redaktionsschluss noch nicht vor, doch auch hier geht Sobbe von einem Wachstum aus. Zur Jahresmitte hätte die Branche im Recorded Bereich – also mit Vinyl, CDs und Streaming – bereits 1,136 Milliarden Euro umgesetzt. Ein Plus von 7,6 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Worin dieses stetige Wachstum begründet liegt? „Der Wachstumstreiber ist seit vielen Jahren das Musikstreaming“, lautet Sobbes klare Antwort. 

 

Spotify, Apple Music und Co. haben die CD als wichtigstes Musikmedium längst abgelöst. 2018 lag der Marktanteil der Streaminganbieter noch bei 58 Prozent. Heute werden 80 Prozent des Umsatzes im Musikmarkt durch digitale Angebote erwirtschaftet – und der Bärenanteil davon vom Branchenriesen Spotify. Dort arbeitet Conny Zhang (31). Als Head of Music DACH ist sie eine der wenigen und gleichzeitig mächtigsten Frauen im hiesigen Musikbusiness. Laut IFPI Global Music Report 2024 hält Spotify einen Marktanteil von etwa 31,7 Prozent der weltweiten Musikstreaming-Abonnements. „Damit sind wir die führende Audioplattform weltweit“, sagt Zhang. 

„Seit fünf Jahren wächst die deutsche Musikindustrie kontinuierlich. Der Wachstumstreiber ist das Musikstreaming." - Georg Sobbe, Leiter Marktforschung und Entwicklung beim Bundesverband Musikindustrie

 

Die deutsche Musikindustrie und das Streaming – eine einzige Erfolgsgeschichte? Nicht ganz. Denn Teil der Wahrheit ist auch, dass Spotify im Jahr 2023 einen operativen Verlust von 156 Millionen Euro ausgewiesen hatte. Spotify-Boss Daniel Ek (41) sagte damals: „Das Wirtschaftswachstum hat sich dramatisch verlangsamt  und Kapital ist teurer geworden. Spotify ist keine Ausnahme von diesen Realitäten.“ Erst der massive Abbau von rund 2.300 Stellen in den vergangenen beiden Jahren (was 17 Prozent der gesamten Belegschaft entspricht) sowie eine drastische Kürzung des Marketingbudgets sorgten für eine Trendwende – und Rekordgewinne. Allein im dritten Quartal 2024 konnte Spotify 400 Millionen Euro Umsatz generieren, im zweiten Quartal sogar 626 Millionen Euro. Ebenso beeindruckende Zahlen haben zuletzt die großen Plattenfirmen veröffentlicht. So konnte allein Zhangs ehemaliger Arbeitgeber, die Universal Music Group, im Jahr 2023 1,6 Milliarden Euro erwirtschaften. Stellt sich die Frage: Bleibt von all dem Geld auch etwas bei denen hängen, die die Musik überhaupt erst möglich machen? Den Künstler:innen?

 

| Michael Stockum arbeitet seit knapp 20 Jahren in der Musikbranche. Wie Musiker:innen Geld verdienen, sei sehr unterschiedlich: Konzerte, Streaming, Markenkoops. Foto: Valentin Ammon

Gerade hinsichtlich der durch Streaming generierten Erlöse wurde von Musiker:innenseite schon zum Start von Spotify Deutschland im Jahr 2012 viel Kritik geübt – und das hat sich bis heute nicht geändert. „Das Abrechnungsmodell des digitalen Musikmarkts ist nach wie vor eine Katastrophe“, sagt der Sänger Max Herre (51). Während internationale Superstars durch Streaming durchaus gut verdienen können, erreichen weniger große Acts dadurch häufig nur Taschengeldniveau. Die Musikvertriebsplattform iGroove hat ausgerechnet, dass Musiker:innen im Schnitt 0,0033 Euro für einen Stream erhalten. Allerdings auch nur dann, wenn die Songs mindestens 30 Sekunden lang laufen, und nur für Songs, die mehr als 1.000 Mal gestreamt werden. Die 40 Millionen Euro, die Spotify dadurch einspart, sollen an die nach den Kriterien des Unternehmens vergütungsberechtigten Künstler:innen verteilt werden – also diejenigen, die eh schon Geld von Spotify erhalten. „Da wird zwischen den Majors, den Verlagen und Digital-Service-Providern wie Spotify, an den Künstler:innen vorbei Geld verdient. Vor allem kleine und mittelgroße Musiker:innen können kaum davon leben“, so Max Herre. Doch wenn sie nicht vom Streaming leben, wovon denn dann?

 

Das weiß kaum jemand so gut wie Michael Stockum (41). Er arbeitet seit knapp 20 Jahren in der Musikbranche, davon viele Jahre als Geschäftsführer beim Sony Music Label Four Music, das auch die Platten von Joy Denalane (51) und deren Mann Max Herre vertrieben hat. Heute ist Stockum Berater für Künstler:innen wie Lena Meyer-Landrut (33), Peter Fox (53) und Herbert Grönemeyer (68), Labelbetreiber, Musikverleger, Mitgründer einer Konzertagentur und Gründungspartner einer Social-Media-Marketing-Agentur – und ab Februar diesen Jahres Vice President A&R bei der Universal-Music Division Chapter One.

„Die Beatles haben mithilfe von Machine Audio Learning John Lennons Stimme von alten Demos separieren können." - Conny Zhang

Michael Stockum sagt, ob und wie Künstler:innen von ihrer Musik leben können, sei individuell sehr unterschiedlich – und auch abhängig vom Musikgenre. „Für DJs ist das Auflegen im Club häufig die wichtigste Einnahmequelle; und auch eine kredible Rockband profitiert am meisten vom Live-Erlebnis“, sagt Stockum. „Rapper hingegen haben in den letzten Jahren wahrscheinlich am meisten durch Streaming verdient, große Popstars können indes mit Markenkooperationen viel Geld machen.“ Die eine Antwort für alle gebe es nicht. Was aber alle im Business bestätigen können: Der Markt hat sich verändert. Brauchte man als Künstler:in vor 22 Jahren, zu Zeiten von „God Is a Music“, noch Manager:innen, Verlag, Plattenfirma, Vertrieb und Promotion, um Musik an die Fans zu bringen, kann man heutzutage dank Instagram, Tiktok, Youtube und Spotify alles selbst machen – zumindest in der Theorie. Allerdings wird auch viel mehr Musik produziert, veröffentlicht und über die genannten Digitalkanäle in die Massen gespült. Alle buhlen um Beachtung – und das in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne permanent sinkt. „Ob man einen Song weiterhört oder weiterklickt, entscheidet sich nach sieben, acht Sekunden“, sagt Michael Stockum. „Es gibt daher diverse Parameter, die man beachten sollte, wenn man in der Welt des Streamings erfolgreich stattfinden möchte.“

 

Dieser Umstand hat zu einem veränderten Anforderungsprofil von Musiker:innen geführt – und dabei ist es vollkommen unerheblich, ob man gerade seine ersten Schritte ins Business macht oder bereits etabliert ist. „Heutzutage ist man nicht mehr nur Musiker:in, sondern auch Influencer. Man muss sich selbst promoten. Die Musik ist da häufig nur Beiwerk“, sagt Sängerin Joy Denalane. Sie selbst bekomme das zwar gut hin, kenne aber einige Kolleg:innen, die arg unter diesen neuen Herausforderungen leiden. Doch wer sich die Mühe macht, heutzutage einen Song zu veröffentlichen, komme nicht drum herum, die Mehrarbeit über Social Media mitzumachen. „Sonst kann man es gleich bleiben lassen“, meint Michael Stockum. Dass Reichweite demzufolge wichtiger sei als Talent, glaubt er aber nicht. „Reichweite allein ist kein Erfolgsgarant, auch wenn sie sicherlich hilft. Aber wenn man musikalisch erfolgreich ist, hat das immer mit Talent zu tun – wenngleich das heutzutage nicht mehr nur musikalisches Talent sein muss. Du musst Menschen entertainen können“, ordnet Stockum ein. 

 | Die Sängerin Joy Denalane hat sich auf die veränderten Bedingungen im Musikbusiness eingestellt: Sie ist auf Social Media aktiv, um ihre Songs zu promoten. Um diese zweite Karriere als Influencer kämen Musiker:innen heute kaum herum. Foto: Timothy Schaumburg

Abhängig sind Künstler:innen heute zudem von Algorithmen, die dafür sorgen, dass ihre Lieder auf wichtigen Playlists landen oder User per Autoplay bestimmte Songs vorgesetzt bekommen. Diese Algorithmen sind jedoch (noch) nicht vollkommen computergesteuert. „Wir haben bei Spotify 2018 angefangen, in die Fusion von Mensch und Technologie zu investieren und mithilfe von Machine Learning handkuratierte Songpools auszuspielen“, sagt Conny Zhang. Das hätte sich gelohnt: „Mittlerweile geben 81 Prozent unserer Hörer:innen an, dass personalisierte Musikempfehlungen ihr Lieblingsfeature von Spotify sind.“

 

Wo wir beim Machine Learning sind: Das Branchenthema schlechthin im Jahr 2025, da ist sich Michael Stockum sicher, wird künstliche Intelligenz sein. „Man muss hier allerdings grundsätzlich zwischen den unterschiedlichen Arten des sehr generischen Überbegriffs KI unterscheiden: Machine Learning ist etwas anderes als Generative AI, diese ist wiederum nicht gleich Large Language Model“, ordnet Conny Zhang ein. Ohne hier tiefer auf die einzelnen KI-Varianten eingehen zu können, Fakt ist: KI spielt bereits jetzt in den unterschiedlichsten Bereichen der Musikindustrie eine große Rolle. „Ein Produzent kann mithilfe von KI einen Song mit der Stimme des Künstlers oder der Künstlerin einsingen, für den oder die er ihn geschrieben hat, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob das passt“, sagt Michael Stockum. Conny Zhang ergänzt: „Die Beatles haben letztes Jahr mithilfe von Machine Audio Learning John Lennons Stimme von alten Demos separieren können.“ Die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt – selbst KI-basierte Hits mit mehreren Millionen Klicks gibt es schon, nachzuhören beispielsweise auf der „Viral Hits“-Playlist auf Spotify.

 

Was allerdings einer dringenden Klärung bedarf: Wie müssen zukünftig die Regularien der Branche aussehen, damit es für alle Beteiligten fair ist – und auch diejenigen etwas vom Kuchen abbekommen, auf deren Songs aufbauend künstliche Intelligenzen Hits schreiben? Denn nur so kann schließlich dafür Sorge getragen werden, dass die Musik und das Geschäft mit ihr tatsächlich erhalten bleiben. 

Zahlen, Daten, Fakten

  • 2,21 Milliarden Euro beträgt der Gesamtumsatz der deutschen Musikindustrie 2023. 80 Prozent des Umsatzes werden durch digitale Angebote erwirtschaftet.*

  • 90 Prozent der Gen-Z-Hörer:innen nutzen Spotify, um tiefer in die Kultur einzutauchen und mehr über die Welt durch Musik und Audio zu lernen.**

  • 160 Prozent beträgt die Steigerung des Frauenanteils der letzten drei Jahre in den Editorial Playlists auf Spotify.***

  • 409 Millionen Euro hat hat Spotify im Jahr 2023 an deutsche Rechteinhaber:innen ausgezahlt.****

  • 51 Songs aller platzierten Lieder in den Jahrecharts stammen von deutschen Künstler:innen. Im Vorjahr waren es nur 42.*****

  • 2024 war der Marktanteil der CD im ersten Halbjahr erstmals einstellig.****

 

Quellen: *Georg Sobbe, **Spotify, ***L&C, ****BVMI 

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