Kristin Henke | Foto: Mike Fuchs
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Frauen an die Spitze? Ja, bitte – aber nur in der Krise

Evelyn Palla ist neue Chefin an der Spitze der Deutschen Bahn. Der Zeitpunkt könnte nicht herausfordernder sein. Warum Frauen häufig in Krisensituationen in Führungsrollen befördert werden und welche Risiken damit einhergehen, erklärt Leadership-Expertin Kristin Henke in ihrem Gastbeitrag.

 

Frauen an die Spitze? Ja, bitte – aber nur in der Krise

Stell Dir vor, ein Unternehmen steckt mitten in der Krise: Verluste, Druck von allen Seiten. Und genau in diesem Moment entscheidet man sich: Jetzt braucht es eine Frau an der Spitze. Dieses Muster ist kein Zufall, sondern ein gut dokumentiertes Phänomen: die „gläserne Klippe“. 

Der Begriff „Glass Cliff“ wurde bereits im Jahr 2004 von den britischen Sozialpsycholog:innen Michelle K. Ryan und Alex Haslam an der University of Exeter geprägt. Der Auslöser ihrer Forschung war ein Zeitungsartikel in der britischen Times, in dem behauptet wurde, Frauen in Führungspositionen würden häufiger schlechte Unternehmenszahlen verantworten. Ryan und Haslam überprüften diese Behauptung und stellten fest: Nicht die Frauen alleine verursachten die schlechten Zahlen, sondern sie wurden überdurchschnittlich oft in schwierigen Zeiten befördert – wenn Unternehmen bereits in der Krise waren.  

Kristin Henke

Was wie Fortschritt wirkt, entpuppt sich oft als Risiko 
Nicht zu verwechseln ist die gläserne Klippe mit der gläsernen Decke, die Frauen am Aufstieg hindert. Die gläserne Klippe lässt Frauen zwar aufsteigen, aber nur, wenn die Lage bereits kritisch ist. Was wie Fortschritt wirkt, entpuppt sich oft als Risiko: hohe Sichtbarkeit, wenig Handlungsspielraum und enormer Erwartungsdruck. 

Plötzlich sind Frauen „gut genug“ für Top-Jobs, wenn die Hütte längst brennt? Und wenn der Turnaround misslingt? Dann heißt es schnell: „Man hat’s ja versucht – mit einer Frau.“ 

Jüngstes Beispiel für die gläserne Klippe? 
Möglicherweise Evelyn Palla. Sie wurde gerade neue Bahn-Chefin, inmitten struktureller Probleme, Personalmangel und wachsendem Druck. Solche „Chancen“ sind selten echte Gleichberechtigung. Vertrauen darf kein Kriseninstrument sein, sondern ein grundlegendes Leadership-Prinzip. 

Weitere prominente Fälle der vergangenen Jahre:

- Tina Müller, wurde 2023 CEO von Weleda nach Jahren schwieriger Restrukturierungen
 
- Linda Yaccarino, kam in die CEO-Position von X (ehemals Twitter) unter Elon Musk 
- Martina Merz, übernahm 2019 Thyssenkrupp inmitten schwerer Umbrüche  
- Theresa May, wurde Premierministerin nach dem Brexit-Votum 

 

 „Stell Dir vor, ein Unternehmen steckt in der Krise und genau dann entscheidet man: Jetzt braucht es eine Frau an der Spitze. Dieses Muster ist kein Zufall, sondern ein gut dokumentiertes Phänomen: die gläserne Klippe.“ 

Kristin Henke

Warum sollen Frauen so oft genau in der Krise übernehmen? 
Die Gründe sind komplex – und gelten nicht nur für das C-Level. Auch auf Director- oder Senior-Ebene erleben viele Frauen zunehmend, dass ihnen in schwierigen Phasen plötzlich Verantwortung übertragen wird. 

Plötzlich vertrauenswürdig  Untersuchungen zeigen: In Krisenzeiten erhalten Frauen in Führungspositionen oft mehr Vertrauen. Nicht, weil ihre Qualifikationen geringer wären, sondern weil „weiblich“ konnotierte Eigenschaften wie Empathie, Kommunikationsstärke und Teamorientierung in den Vordergrund rücken.  

Symbol für Veränderungsbereitschaft 
Krisen veranlassen Entscheider:innen häufig dazu, unkonventionelle und weniger „traditionelle“ Führungspersonen auszuwählen. Vorwiegend als Signal gegenüber wichtigen Stakeholdern, dass sich die Organisation mutig in eine neue Richtung bewegt – oft ohne die strukturelle Unterstützung, die echter Wandel braucht. 

Sündenbock-Mechanismus Erfolge von Frauen an der Spitze werden gerne als „Fortschritt“ oder „Glück“ abgetan, Misserfolge ihnen dagegen direkt angelastet. Genau darin liegt der Sündenbock-Mechanismus: Läuft es gut, war’s der Wandel. Scheitert es, war’s die Frau. 

Was muss sich ändern? 
Zuallererst brauchen wir: Vertrauen in Kompetenzen, nicht erst in der Krise. 

Ehrlich nach innen blicken  
Wenn eine Frau nur deshalb befördert wird, weil „jetzt alles anders werden muss“, ist das kein Fortschritt. Ich ermutige Unternehmen, diese Muster zu hinterfragen: Treffen wir hier eine strategische Entscheidung – oder eine stereotypische? 

Verantwortung teilen
Wenn Organisationen wissen, dass sie in der Krise sind, brauchen sie Strukturen, nicht Held:innen. Frauen dürfen nicht allein auf der Klippe stehen, sondern brauchen Systeme des Rückhalts und interne Verbündete.

Ressourcen und Absicherungen verhandeln 
In meiner Arbeit ermutige ich Frauen genau hierzu: „Du darfst fordern, bevor Du führst.“ Nicht nur „Ja“ sagen, sondern Bedingungen verhandeln: Teamzusammensetzung, Budget, Zeitrahmen, Kommunikationsrahmen – und gar Exit-Strategien. 

Muss immer erst was passieren, damit was passiert? 
Die gläserne Klippe zeigt: Fortschritt entsteht nicht automatisch, wenn Frauen aufsteigen. Besonders dann nicht, wenn sie erst ins Spiel kommen, wenn kaum noch Spielraum bleibt. Wir müssen aufhören, Frauen erst dann zu vertrauen, wenn Unternehmen schon kurz vor dem Abgrund stehen. Echter Wandel beginnt nicht am Rand der Klippe, sondern weit davor. 

Portrait

Kristin Henke

Female Leadership-Expertin

Kristin Henke ist Female-Leadership-Expertin, Keynote-Speakerin und Empowerment-Trainerin. Sie unterstützt weibliche Führungskräfte darin, ihre Führungsaufgaben mit Souveränität, Leichtigkeit und Spaß zu gestalten und ihre volle Führungspersönlichkeit einzubringen. Zuvor war sie knapp zehn Jahre lang CEO und geschäftsführende Gesellschafterin einer Weiterbildungsagentur. Henke ist Mutter von drei Kindern und lebt in Berlin.

Foto: Mike Fuchs