Karin Lausch

vor 12 Tagen

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Warum haben wir ständig das Gefühl, uns beweisen zu müssen?

Als Chef:in im Meeting, als Vereinbarkeit-meisternde Eltern, als Expert:in auf Linkedin: Viele Menschen meinen, sich beweisen zu müssen. Doch müssen wir das wirklich immer und überall? Nein, findet Führungskräfte-Coach Karin Lausch – obwohl sie das Gefühl, persönlich nur zu gut kennt.

Warum haben wir ständig das Gefühl, uns beweisen zu müssen?
"Was es ist, das mich rennen lässt, obwohl ich rasten will?", fragt sich Karin Lausch | Foto: privat

Es ist 23 Uhr und ich starre auf mein Handy. Nicht, weil ich auf eine Nachricht warte, sondern weil ich eine schreiben möchte. Eine Botschaft, um genau zu sein. Einen Post für den nächsten Tag. Irgendwas Inspirierendes am besten.

 

Leider fühle ich mich gar nicht inspirierend. Eher müde. Ich könnte mein Telefon weglegen und es einfach lassen. Aber etwas hält mich davon ab und sagt mir, ich müsse mir so lange Gedankenfetzen aus meinem Gehirn quetschen, bis ein halbwegs adäquater Beitrag zustande gekommen ist.

Was lässt mich rennen, obwohl ich rasten will?

Ich habe mich lange gefragt, was es ist, was mich in diesen Situationen schreiben lässt, statt ins Bett zu gehen. Was es ist, das mich rennen lässt, obwohl ich rasten will und was mich dazu bringt, das Gefühl zu haben, es sei noch nicht genug?


Ja, ich will es beweisen. Ich will beweisen, dass ich etwas zu sagen habe, etwas kann und gut bin. Ich würde gern behaupten, ich wäre frei von diesem Gefühl, aber ich bin es nicht und allein das zu erkennen, ist doch schon mal was.

Der Drang, Beweise zu liefern, hat viele Menschen im Griff

Wie oft erzählen mir Führungskräfte im Coaching, sie müssten im Meeting einen Beitrag liefern, um zu beweisen, dass sie auf dem richtigen Platz seien? Wie oft spreche ich mit meinem Umfeld über das Gefühl beweisen zu müssen, auch mit Kindern bei der Arbeit alles zu geben? 


Ohne Beweise geht in unserer Welt nichts mehr. Und in vielerlei Hinsicht ist das gut. Immerhin wollen Menschen wissen, dass Nachrichten wahr und Identitäten real sind, oder auch einfach, dass ihre behandelnde Ärztin auch wirklich eine entsprechende Ausbildung hat.

 

 

Doch spätestens seit Social Media haben Beweise eine andere Dimension angenommen: Nicht mal ein Essen wurde wirklich gegessen, wenn es nicht vorher gepostet wurde. Wir erzeugen Beweise für unsere Kompetenz, unsere Präsenz und unsere Relevanz, indem wir uns mit Titeln schmücken, unser halbes Leben in eine Bio schreiben, uns verifizieren oder schnell noch ein Reel aufnehmen, in dem wir irgendwas sagen, während wir unser Make-up auftragen.

In dem Bestreben, uns zu beweisen, schreien wir immer lauter

Wir berichten, wo wir waren, wo wir sind und wo wir hinwollen. Alle schreiben Bücher und Impressions sind zur neuen Währung geworden. Wer nicht sichtbar ist, findet nicht statt, heißt es.

 

Und genau hier ist doch das Problem: In dem Bestreben, die eigene Existenz zu beweisen, schreien wir immer lauter und schriller. Wir hetzen von einem Projekt zum nächsten, netzwerken, sind präsent und immer on. Dabei kenne ich derzeit niemanden, der oder die dabei nicht total erschöpft ist. Und auch ich finde es unfassbar anstrengend.

Wem will ich es eigentlich beweisen und was überhaupt?

In den letzten Jahren habe ich ganz schön viel bewiesen. Ich wollte beweisen, dass ich selbständig erfolgreich sein kann, dass ich ein Buch schreiben kann, oder eine Firma gründen und führen kann. Und bei all den bereits vorhandenen Beweisen drängt sich mir die Frage auf: Warum zur Hölle sitze ich um 23 Uhr noch völlig übermüdet da, getrieben davon, es beweisen zu müssen? Wem will ich es überhaupt beweisen und wann ist es denn endlich mal bewiesen?

 

| Foto: privat


Ich will nicht nur stattfinden, wenn ich sichtbar bin. Vielleicht habe ich sogar die beste Zeit meines Lebens, wenn ich mal unsichtbar bin. Das Unsichtbare sollte wieder viel mehr Raum und Wertschätzung bekommen. 


Mir fallen viele Dinge ein, die unsichtbar und unbewiesen einfach besser sind: Das Essen genießen, statt es zu posten, sich über Erfolge freuen, statt sich mit anderen zu vergleichen, wirklich mit Menschen sprechen, statt nur ein Selfie mit ihnen zu machen, ein Konzert erleben, statt es zu filmen, sich offline schminken und schlafen gehen, wenn man müde ist, statt beweisen zu müssen, dass man auch morgen noch inspirierend sein kann. 


Manchmal müssen wir uns nur eines beweisen, nämlich, dass wir die Freiheit haben, Dinge nicht zu tun, von denen wir glauben, dass wir sie tun müssten. Deshalb mache ich das Handy aus, gehe schlafen und beweise mir selbst, dass ich nichts beweisen muss.

 

 

Zur Person

Karin Lausch ist geschäftsführende Gesellschafterin von coeffect. Sie begleitet seit 14 Jahren Führungskräfte in ihrer Entwicklung und zu allen Fragen der Führung. Mit ihrer Arbeit und Reichweite setzt sich die Bestseller-Autorin (Trust me – Warum Vertrauen die Zukunft der Arbeit ist) für zukunftsfähige Führung, Vertrauen und Menschlichkeit im Arbeitsleben ein.

 

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