Alkoholiker:innen sind intelligent, erfolgreich und einkommensstark
Alkoholiker:innen sind häufig intelligent, haben ein gutes bis sehr gutes Einkommen und einen gehobenen Sozialstatus. So steht es im „Alkoholatlas“, den die Bundesregierung erstellen ließ. Immerhin: Allein war ich also nicht. Von einzelnen Berufsgruppen weiß man, dass ihre Vertreter besonders oft zur Flasche greifen. Ganz vorn dabei: Ärzt:innen und Lehrer:innen.
Es hat mich fast 15 Jahre gekostet, bis mir eingestanden habe: Ich bin funktionierende Alkoholikerin. „Ich habe mich geschämt. Ich habe mir das Stigma zu eigen gemacht, ich wäre nicht diszipliniert genug, es wäre eine Charakterschwäche oder moralisch verwerflich - und dass ich es geheim halten müsste“, erinnert sich eine der bekanntesten US-Fernsehjournalistinnen, Elisabeth Vargas, an ihre Sucht. Die Ankerfrau des Senders ABC hat sich fast tot getrunken, quasi vor laufender Kamera. Es gibt eine äußerst sehenswerte Doku über sie. Vargas verrät darin auch, warum sie immer wieder trank: Angst und Panikattacken quälten sie. „Wenn der Countdown zur Livesendung lief, wäre ich manchmal am liebsten weggelaufen“, erinnert sie sich. Ein tiefer Schluck vor der Sendung brachte die nötige Ruhe.
Ich coache heute selber beruflich erfolgreiche Frauen mit Alkoholproblemen. Die meisten sind typische Entspannungstrinkerinnen – oder sie glätten damit Ihre Ängste, so wie Vargas.
Viele Frauen erschlägt ihre eigene Messlatte
Alkohol ist ein tückischer Stimmungs-Allrounder: Graue Mäuse erblühen zu Diven, in Ängstlichen weckt er den Tiger, Traurige können mit ihm Bäume ausreißen, Null-Bock-Laune ist nach einem Drink Geschichte, Gestressten schenkt er er zuverlässig Entspannung.
„Mein Problem kenne ich schon lange“, beschreibt es eine Klientin von mir. Sie ist Head of Sales in einer mittelständischen Softwarefirma. „Ich finde einfach kein Ende. Alles muss perfekt sein. Im Job sowieso. Wenn da dann alles wirklich pingelig genau erledigt ist, dann kommt die Familie, das Privatleben. Der Tag könnte doppelt so lang sein und ich würde immer noch mehr machen, damit alles meinen Ansprüchen gerecht wird. Irgendwann bin ich dann so kaputt am Abend, dass ich zwei, drei Gläser stürze, um irgendwie schnell runterzukommen. Wie viele Drinks noch folgen, weiß ich am nächsten Morgen oft nicht mal mehr.“
Im Beruf liefern erfolgreiche Frauen tausend Prozent - um nach Feierabend und am Wochenende das Gaspedal noch einmal voll durchzudrücken, angetrieben vom eigenen Perfektionismus.
Meiner Erfahrung nach ist das ein typisches Muster erfolgreicher Frauen. Im Beruf liefern sie tausend Prozent - um nach Feierabend und am Wochenende das Gaspedal noch einmal voll durchzudrücken, angetrieben vom eigenen Perfektionismus. Anders ausgedrückt: Viele Frauen erschlägt ihre eigene Messlatte. Sie greifen zum Glas, um abschalten zu können. Am nächsten Morgen sind diese Frauen wieder hochpräsent und leistungsfähig. Soviel zur Mär, Alkoholiker:innen seien schwach oder willenlos. Das Gegenteil ist wahr. Funktionierende Alkoholikerinnen sind beinhart.
Beruflich erfolgreiche Frauen haben außer Schuld und Scham häufig noch einen weiteren Grund, sich keine Hilfe zu suchen. Sie fühlen sich von der gängigen Therapie nicht angesprochen. Körperliche Entgiftung in der Klinik, danach Langzeittherapie von drei Monaten, Psychotherapie, Selbsthilfegruppen. „Das kam für mich einfach alles nicht in Frage“, sagte mir eine Klientin. „Wie sollte das wohl gehen? Ich habe keine drei Monate Zeit, mich bei Stuhlkreis und Körbchenflechten selbst zu finden. Hinterher hätte ich keinen Job mehr - und bringen würde mir das auch nichts.“
Ich kann die Klientin gut verstehen. Als ich aufhören wollte, ging damals Ähnliches durch den Kopf. Vor allem: Bei allem Aufwand ist die Erfolgsquote der gängigen Therapie schlichtweg miserabel. Einer von ungefähr fünf schafft es mit damit, die Finger dauerhaft vom Alkohol zu lassen. Das war mir zu wenig - und außerdem wollte ich genauer verstehen, warum mich der Wein so eng am Gängelband hatte. An eine schwache Psyche glaubte ich nicht, das war nicht ich.
Alkoholismus steht in einer Reihe mit Depressionen - mit Willensschwäche hat er nichts zu tun
Ich bin Wissenschaftjournalistin und hatte nun den besten Recherchegrund überhaupt: Ich war auf der Suche nach Hilfe für mich selbst. Schon bald war klar: Die Medizin weiß heute sehr genau, was einen an die Flasche treibt. Spoiler-Alert: Ein schwacher Wille ist es nicht, der einen immer wieder umfallen lässt. Dahinter steckt reine Biochemie, genauer: Die Hirnchemie hat Schlagseite. Alkoholismus steht damit in einer Reihe mit Depressionen oder sogar Diabetes. Ich erkläre die medizinischen Hintergründe in unserem Buch „Alkohol adé“, auf der dazugehörigen Website und auch in einigen Videos auf Youtube.
Viele meiner Klientinnen sind unendlich erleichtert, wenn sie die harten medizinischen Fakten verstanden haben. Das befreit sie nicht nur schlagartig von elenden Schuldgefühlen. Diese rationale, medizinische Betrachtung gibt ihnen auch ganz andere Werkzeuge an die Hand, ihr Alkoholproblem anzupacken. Dabei helfe ich ihnen. Meistens sogar anonym. Teil meines Konzeptes ist es auch, dem Körper Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Dabei spielen Nährstoffe, also Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente und Eiweiße eine große Rolle. Sie haben mir die erste Zeit ohne Alkohol sehr erleichtert.
Über die Autorin: Gaby Guzek studierte Sprach- und Poliitkwissenschaften in Deutschland und in den USA und absolvierte ihren M.A. an der State University of New York at Buffalo. Seit 1992 ist sie als freiberufliche Journalistin für Medizin und Wissenschaft tätig und hat als Verlegerin gemeinsam mit ihrem Mann mehrere Bücher veröffentlicht – u.A. den Ratgeber "Alkohol ade", der beim Ausstieg aus dem Alkoholismus unterstützen soll.