Prof. Dr. Mandy Mangler
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Medical Gaslighting ist kein Problem „empfindlicher Patientinnen“

Fast 40 Prozent der Frauen in Deutschland meiden Besuche bei Ärzt:innen, weil sie sich nicht ernstgenommen fühlen. Zu diesem erschreckenden Schluss kommt eine aktuelle Studie. Warum Medical Gaslightning das Ergebnis hochproblematischer Strukturen ist und was Chefärztin Mandy Mangler Betroffenen rät, erklärt sie in ihrem STRIVE-Gastbeitrag.

Medical Gaslighting ist kein Problem „empfindlicher Patientinnen“
„Medical Gaslighting ist keine gefühlte Ungerechtigkeit, sondern nachgewiesener Alltag vieler Frauen", sagt Mandy Mangler. Foto: Vivantes

„Das ist doch psychisch.“ Diese Worte hören Patienten – oder besser gesagt – vor allem Patientinnen häufig, wenn sie mit chronischen Schmerzen, Erschöpfung oder Beschwerden, die auf den ersten Blick nicht eindeutig zuzuordnen sind, ärztliche Hilfe suchen. Was hinter dieser scheinbar harmlosen Bemerkung steckt, hat in den letzten Jahren einen Namen bekommen: Medical Gaslighting. Es meint das systematische Abtun oder Bagatellisieren von Symptomen mit dem Ergebnis, dass Diagnose und Behandlung verzögert oder verhindert werden.


Medical Gaslighting ist keine gefühlte Ungerechtigkeit, sondern nachgewiesener Alltag. Ganze Bücher wurden dazu geschrieben. Je weiter man vom männlichen Mainstream-Patienten entfernt ist, desto höher ist das Risiko davon betroffen zu sein: Frauen erleben es öfter als Männer, BIPOC-Patientinnen, queere oder ärmere Menschen noch häufiger. Sie warten länger auf Diagnosen und wenn sie mit Schmerzen in die Notaufnahme kommen, erhalten bei gleicher Schmerzstärke weniger Schmerzmittel.


Was sind die Ursachen von Medical Gaslightning?


Hinter dem Phänomen stecken verschiedene strukturelle Ursachen: Zum einen hat Medical Gaslighting viel mit unserem Verständnis von Medizin zu tun. Können wir Symptome nicht zuordnen, kategorisieren wir sie der Einfachheit halber oft als „etwas anderes“ ein. Eine körperliche Krankheit kann es ohne eindeutige Symptome ja nicht sein, so jedenfalls denken viele.


Zum anderen war die Medizin über Jahrhunderte ein Exklusiv-Club von Männern für Männer, Frauen waren ausgeschlossen. Höchstens als „kleine Männer“ wurde sie als Patientinnen mitgedacht. Ihr Blick als Behandelnde fehlte genauso wie der Fokus auf den weiblichen Körper und das, was ihn vom männlichen unterscheidet, gänzlich.

Dabei haben Studien längst bewiesen, dass genau das für Frauen lebensnotwendig ist. Dass ihre hormonellen, genetischen, anatomischen und immunologischen Unterschiede mitgedacht werden müssen. Chemotherapien beispielsweise wirken an unterschiedlichen Zyklustagen unterschiedlich stark, wie eine Studie erst im vergangenen Jahr (!) herausfand.


Auch in klinischen Studien sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert. Laut einer Analyse der FDA (2015) waren in kardiologischen Studien nur rund 34 Prozent der Teilnehmenden weiblich. Die Folge: Symptome bei Frauen, insbesondere bei Herz-Kreislauf-, Schmerz- oder Autoimmunerkrankungen, weichen vom „Standard“ ab und werden nicht erkannt.

Besonders dramatisch zeigt sich das bei Erkrankungen wie:

  • Herzinfarkt: Frauen erhalten im Notfall seltener EKGs oder Koronarangiografien. Eine Studie der American Heart Association (2021) zeigte, dass Frauen mit Herzinfarkt eine um 37 Prozent höhere Sterblichkeit haben, wenn sie von männlichen Ärzten behandelt werden.

  • Endometriose: Betroffene warten in Deutschland im Schnitt sieben bis zehn Jahre auf eine Diagnose.

  • Autoimmunerkrankungen wie Lupus oder Hashimoto-Thyreoiditis werden häufig zunächst als psychische Erkrankung fehlgedeutet.


Was tun, wenn ich mich nicht ernst genommen fühle?


Wer als Patientin oder Patient den Eindruck hat, nicht gehört oder ernst genommen zu werden, dem empfehle ich dranzubleiben. Und zu verstehen, dass wir Ärzte und Ärztinnen von Feedback profitieren. Häufig hilft es zum Beispiel enorm, wenn Sie Symptome dokumentieren, etwa mit Schmerz-Tagebüchern, Zyklusdaten und Fotos. Alles, was Beschwerden objektiviert, kann aufschlussreich sein. Dann würde ich erneut das Gespräch mit den Behandelnden suchen und im Zweifelsfall eine Zweitmeinung einholen.


Was im deutschen Gesundheitssystem leider ebenfalls eine Realität ist: Viele Mediziner und Medizinerinnen sind überlastet. In unserer ökonomisch fehlincentivierten Struktur ist die dringend notwendige Zeit für ausführliche Gespräche mit Patient:innen deswegen oft nicht vorhanden. Auch deshalb bleiben wir trotz unseres hochspezialisierten Gesundheitswesens hinter unseren Möglichkeiten zurück. Medical Gaslighting zu erkennen, birgt die Möglichkeit, uns als Gesellschaft damit auseinanderzusetzen, besser zu werden und es stellt auch Fragen nach den überstrapazierten Arbeitsbedingungen von medizinischem Personal.

Medical Gaslighting ist kein individuelles Problem „empfindlicher Patientinnen“, sondern ein systemisches Defizit einer Medizin, die auf Neutralität ausgelegt ist, aber männlich geprägt wurde. Es ist Zeit, zuzuhören. Und Frauen endlich als Norm zu begreifen – nicht als Ausnahme.

Foto: privat

Zur Person

Prof. Dr. Mandy Mangler (48) ist Chefärztin der Frauenheilkunde und Geburtshilfe an zwei Berliner Kliniken. Sie engagiert sich für mehr Aufklärung in Bezug auf den weiblichen Körper und echte Gleichberechtigung in der Medizin. Ihr Credo: Nur eine individualisierte Medizin ist eine starke Medizin. 2024 erschien ihr Buch „Das große Gynbuch Selbstbewusst für den eigenen Körper entscheiden“ im Insel-Verlag.