Gastbeitrag | Beim Arbeiten das Leben verpassen, sich beim Pause machen für unproduktiv halten – ein Loose-Loose-Game, bei dem wir nicht mehr mitspielen sollten, sagt Marketing- und Diversityexpertin Isabelle Rogat. In ihrem Gastbeitrag schreibt die 25-Jährige über ihren eigenen Kampf mit Self Care vs. Hustle Culture, erklärt uns, was “FOMO vom Leben” ist und ruft dazu auf, die eigenen Bedürfnisse weniger zu verurteilen.
Isabelle Rogat
vor 10 Tagen
Das Yogakurs-Paradoxon
Sonntagabend, 19 Uhr. Dazu: Ein Smoothie (grün natürlich). Eine Serie (Netflix natürlich). Die Urban-Sports-Club-App offen. Auf dem Kursplan: Sunrise Flow - Montag, 09:30 Uhr Ashtanga - Dienstag, 11:00 Uhr Vinyasa - Donnerstag, 16:45 Uhr Ein genervter Blick zu meinem Freund: „Was bringt denn das? 80 % dieser Kurse kann doch niemand nutzen. Ich kann doch frühestens ab 19 Uhr!“ Betretenes Schweigen, als mir mein eigenes BWL Bachelorstudium mental zuruft: Angebot und Nachfrage. Meinst du nicht, die schiere Existenz dieser Kurse beweist, dass nicht alle so arbeiten wie du? Point taken. 1:0 für mich. Gegen mich.
Aber dieser kurze erhitzte Wortaustausch mit mir selbst eröffnete mir eine größere Frage: Warum haben wir trotz all der New-Work-Kolumnen, flexiblen Arbeitszeitmodelle und Teilzeit-Rolemodels immer noch kollektiv so ein doppelmoralisches Verhältnis zum Arbeiten?
Wieso malen wir das Bild von Erfolg, der an Input statt Impact gemessen wird?
Warum beginnt jeder LinkedIn-Beitrag, der unsere "Hustle Culture" kritisieren will, dann doch wieder mit der subtilen Betonung dessen, dass man selbst ja AUCH viel zu viel arbeitet? Warum rutscht mir selbst, trotz bewusster Bemühungen beim Feierabend um 18 Uhr, eine Rechtfertigung für dessen Pünktlichkeit heraus – und nicht einfach nur ein lockeres Winken aus dem Handgelenk? Und wieso malen wir auch journalistisch immer noch in den Titeln dieses Landes das Bild von Erfolg, der an Input statt Impact gemessen wird?
90 Stunden meets Downward Dog Von 90-Wochenstunden-hungrigen Berufseinsteiger:innen schrieb David Döbele gerade vor ein paar Wochen in der ZEIT CAMPUS. Und auch wenn mich eine derartig performante, corporate Pick-me-Girl-esque Darstellung des Arbeitslebens kurz meine Avocado-Bowl des Mittags hochwürgen ließ, saß ich nun doch da und dachte darüber nach. Darüber, dass 90 Stunden natürlich völlig überzogen sind. 80 auch. 70 auch. 60 auch. Na ja, wobei – 60 sind am Ende 12 Stunden pro Tag. Alle sagen immer, dass sie das machen – wenn man nur unter der Woche arbeitet. Und als High Performerin arbeitet man ja eh nicht nur unter der Woche. Aber Moment – am Wochenende war doch auch das Beyoncé Konzert, über das am Montag alle reden? Und das Treffen mit den Freundinnen, wer fotografiert mich sonst beim Brunch? Und Sport. Hach, ja – der gute Sport.
Und damit wären wir nach einer kurzen mentalen Panikreaktion auf die schiere Vorstellung einer 90-Stunden-Woche zurück beim heutigen Thema: Wie kann es sein, dass – wenn wir alle, um erfolgreich zu sein, bis 20 Uhr arbeiten – 80 % der Sport- und Kulturangebote unserer Gesellschaft scheinbar unnutzbar werden? Ist das ein kurzer Aussetzer meiner brav im Studium gelernten Angebot- und Nachfrage-Logik? Ein Glitch in der kapitalistischen Wirtschafts-Matrix? Machen nur erfolglose Menschen Sport? Oder könnte es sein, dass es eben durchaus noch andere Lebensmodelle gibt, als abends um 8 Uhr vom Laptop beleuchtet zu werden? Nun könnte ja die berechtigte Frage aufkommen, warum ich mich hier über mein Sportverhalten auf 3.000-4.000 Zeichen auslasse. Weil es um mehr als meinen Yogakurs geht. Es geht um ein Spiel, das wir nicht gewinnen können. Und über das wir reden müssen.
Könnte es sein, dass es noch andere Lebensmodelle gibt, als abends um 8 Uhr vom Laptop beleuchtet zu werden?
FOMO vom Leben Lasst mich euch in meine Wohnung mitnehmen, um das zu erklären. Ich wohne neben einem italienischen Restaurant. Eines Tages, als ich bei einem Iced Matcha meinen Feierabend mal wieder erfolgreich mit dem Schreiben einer Kolumne herauszögerte, spielte sich Folgendes ab:
Ein lautes Lachen. (Ein genervter Blick.) Noch ein Lachen. (Ein genervtes Schnaufen.) Ein Lachflash. (Augen verdrehen, aufstehen, ein viel lauter als nötig passiv-aggressiv zugeknalltes Fenster, Stille.)
Was ich mich nach einigen Sekunden fragte: Wie konnte es sein, dass mich der ausgelassene Pizzaabend zweier Freundinnen auf der Terrasse der Osteria da Francesco so sehr störte, dass ich mich freiwillig für eine stickige Wohnung und gegen einen frischen Durchzug entschied? FOMO. FOMO vom Leben! Einerseits, weil Pizza so ziemlich die genialste Mehlverwendung der Menschheit nach Brot und Pasta ist, andererseits aber auch, weil es sich irgendwie falsch anfühlte, als einzige zu arbeiten, während alle anderen scheinbar freihatten. „…als einzige…“ „…während alle anderen…“ Kommt euch das bekannt vor? Derartige Übertreibungen sind es nämlich, mit denen wir uns Tag für Tag selbst gaslighten zu denken, wir täten zu wenig. Wir seien zu wenig. Entweder beim Arbeiten, oder eben im Rest des Lebens. Übertreibungen, die uns dazu bringen, unsere aktuelle Entscheidung immer genau für die Falsche zu halten.
"Unsere Welt braucht Ideen und keine vollen Timesheets."
Wenn wir arbeiten – dann haben bestimmt ALLE anderen gerade frei. Wenn wir im Café sitzen – dann gründen ALLE anderen wahrscheinlich gerade zu Hause das dritte Start-up. Wenn wir auf LinkedIn sind, haben alle anderen Spaß auf TikTok. Wenn wir auf TikTok sind, verballern wir unsere Zeit mit Social Media. Da kommt die Frage auf: Kann man es denn irgendwie auch richtig machen? Ich habe mir da nun einige Zeit in meinem stickigen Wohnzimmer ohne geöffnete Fenster ein paar Gedanken gemacht und: Ja. Kann man. Und eins verrate ich euch – es hat nichts mit 90-Stunden-Wochen zu tun. Sondern hiermit: Lasst uns doch mal aufhören, uns immer selbst einzureden, dass unsere eigenen Bedürfnisse falsch sind – dass WIR falsch sind. Dass wir der Welt nur wertvolle Gedanken zwischen 8 und 20 Uhr produzieren könnten und dass ein zugeklappter Laptop um 5 uns irgendwelche Türen verschließt. Unsere Welt braucht Ideen und keine vollen Timesheets.
Nicht jeder Mensch sitzt gerade draußen und isst Pizza, wenn du arbeitest. Nicht jeder Mensch arbeitet gerade, wenn du mal Pause machst. Und nein, nicht jeder Mensch in deinem Umfeld arbeitet 90 Stunden. Auch nicht 60. Oder 50. Genau deshalb gibt es bei Urban Sports Club Yogakurse vor 20 Uhr. Also: lasst uns mal selbst von der Leine lassen. Ich seh’ euch dann im Downward Dog um 11. Und abends Pizza.
Über die Autorin
Isabelle Rogat, eigentlich überall als Isi bekannt, ist eine wahre Allrounderin im Marketing- & Diversitybereich. Mit gerade einmal 25 ist sie Head of Innovation & DEI bei thjnk, einer der Top Kreativagenturen Deutschlands. Nebenbei ist sie Kolumnistin für die W&V, Podcast Host bei “ALTE SAU”, Member des GWA U30 Boards der Werbebranche und aktiv in der Netzwerkarbeit, bspw. bei Nushu als Co-Lead der Young Professionals Sparte oder Beirätin bei FiF. Und das neuste Lovechild ihres vollen Terminkalenders – ein Newsletter mit dem treffenden, Reality-TV-inspirierten Titel “TOO MUCH TO HANDLE”, bei dem sie ihre Abonnent:innen jede Woche mit inspirierenden Interviews, News-Memes und Gedankenanstößen versorgt.