Insa Schniedermeier

vor 18 Tagen

8 Min. Lesedauer

Zum Tag der Gleichstellung - eine Prise Wut bitte

Ich bin wütend. Und das ist gut so. Besser zumindest, als traurig zu sein, wie ich neulich gelernt habe. Denn Wut kommt mit einer anderen Energiequalität. Wut hat Kraft, die zerstörerisch ist, aber auch schöpferisch eingesetzt werden kann. Aus Wut kann Veränderung entstehen. Trauer hingegen zieht Energie und hat einen Nachgeschmack von Passivität, Hilflosigkeit und Kraftlosigkeit. Kurz: Wut ist Empowering, Trauer ist Disempowering.

Ich bin wütend, weil ich überhaupt diesen Text über den heutigen Tag der Gleichstellung der Frau schreiben muss. Nicht, weil ich keine Lust habe, an einem sonnigen Tag vor meinem Computer zu sitzen und zu schreiben. Ich liebe das eigentlich. Aber ich würde viel lieber einen Text über ein tolles Gründerinnen-Team schreiben, das – finanziert von einer weiblichen Angel-Investorin – gerade ein neues Verfahren entwickelt hat, mit dem CO2-Emissionen in der Atmosphäre neutralisiert werden können. Oder darüber, wie sich meine Namensvetterin Insa Thiele-Eich auf ihre Weltraummission vorbereitet. Ich möchte lieber inhaltliche Texte schreiben als über Rahmenbedingungen zu diskutieren. Doch damit ich das tun kann, muss sich der Rahmen zunächst ändern.

Zum Tag der Gleichstellung - eine Prise Wut bitte
Zum Tag der Gleichstellung - eine Prise Wut bitte

So sitze ich hier also in meiner Wut darüber, dass es im Jahr 2021 überhaupt einen Tag der Gleichstellung der Frau gibt. Warum müssen wir noch immer über etwas eigentlich Selbstverständliches sprechen? Die Gleichberechtigung der Frau steht schließlich seit 72 Jahren sogar in unserem Grundgesetz. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es da. Niemand dürfe „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“. Doch wie sieht es in der Realität aus?

 

Care Gap: Der Gender Care Gap bezeichnet, wie viel mehr Zeit Frauen für unbezahlte Arbeit wie Haushalt, Erziehung und die Kindererziehung aufwenden als Männer. Im Jahr 2019 lag der durchschnittliche Gender Care Gap bei 52,4 %. Durch die Corona-Pandemie dürfte sich diese Zahl weiter verschlechtert haben. Der Gender Care Gap führt für Frauen zu wirtschaftlichen Nachteilen: Häufiger als Männer arbeiten sie in Teilzeit, was zu niedrigeren Einkommen im gesamten Lebensverlauf führt – und das wiederum zu niedrigeren eigenständigen Alterssicherungsansprüchen.

 

Research Gap: Frauen studieren heute genauso häufig wie Männer, doch nach dem ersten Studienabschluss wird die Luft dünner: Nur jede dritte Studentin habilitiert. Unter hauptberuflichen Professor:innen liegt der Frauenanteil bei rund 25 %, bei C4-Professor:innen sogar nur bei rund 10 %. Das kann Konsequenzen haben, wie und worüber geforscht wird. Und: Studierte Frauen verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen.

 

Pay Gap: Womit wir bei dem Gap sind, den wir wohl alle nicht mehr hören können: Der Gender Pay Gap. Bereinigt liegt er aktuell bei 6 %. Bereinigt heißt, dass hierbei die Gehaltsdifferenz von Frauen und Männern mit vergleichbaren Qualifikationen und Tätigkeiten gemessen wird. Der unbereinigte Gender Pay Gap, der den allgemeinen Durchschnittsverdienst von Frauen und Männern miteinander vergleicht, liegt sogar bei 18 %. Seit dem Jahr 2006 hat sich diese klaffende Lücke nur um 5 Prozentpunkte geschlossen. Mögliche Gründe dafür sind, dass sie weniger erwarten, vorsichtiger verhandeln und Berufe wählen, die schlechter bezahlt werden.

 

Funding Gap: Ebenfalls wütend macht mich die ungleiche Verteilung von Finanzierungen für Gründerinnen. Die Risikokapitalbranche wird weiterhin von Männern dominiert. Laut dem Female Founders Monitor gingen 2019 nur 1,6% der Venture Capital Finanzierungen an rein weibliche Gründerinnenteams. In der Europäischen Union entfielen zwischen Oktober 2018 und September 2019 nur 0,4 % der VC-Finanzierung auf Start-ups mit Gründerinnen. Männer geben Männern Geld.

 

Immer noch nicht wütend?

 

Ich weiß, Wut hat einen schlechten Ruf. Und während ich das hier schreibe, fühle ich direkt den Drang, mich zu erklären, zu sagen, dass ich eigentlich gar kein wütender Mensch bin (was stimmt), dass ich Yogini bin und meistens ziemlich Zen.

Ich habe gelernt, dass man sich besonders als Frau vor der Wut hüten sollte. Denn sonst gilt man schnell als Furie (Kreuzworträtsel: „Wütende Frau mit 5 Buchstaben“). Schon in der Kindheit lernen wir, wie wir zu sein haben: Ruhig und süß, bloß nicht zu laut, zu wild oder zu frech. So wird die Wut im Bauch unterdrückt und weggelächelt.

 

Dabei ist Wut erst einmal nur eine Emotion. Sie zeigt an, dass man mit dem Status Quo nicht zufrieden ist, dass man etwas nicht akzeptieren will und als ungerecht empfindet. Wie man damit umgeht ist dann eine andere Sache. Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum, sagte der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl. In diesem Raum liegt ihm zufolge unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion, und damit unsere Entwicklung und unsere Freiheit. Der aufgeklärte, sozialisierte Mensch kann also Wut wahrnehmen und dann eine Reaktion darauf wählen. Im Angesicht der Ungerechtigkeit, dass die Gleichstellung von uns Frauen offensichtlich noch nicht erreicht ist, gebe ich daher hiermit meiner Wut Raum. Veränderung ist möglich und muss passieren, davon bin ich überzeugt.

 

Ich wünsche mir am heutigen Tag der Gleichstellung  eine Welt, in der sich Frauen und Männer frei dazu entscheiden können, Kinder zu bekommen, ohne das Ende ihrer Karriere befürchten zu müssen. Ich wünsche mir als Frau die gleichen Chancen wie ein Mann, ohne mich männlich verhalten zu müssen. Ich möchte die multidemensionale Frau sein, die ich bin und dafür wertgeschätzt werden – für mein Frausein. Für mein Ichsein. Und die gleichen Freiheiten wünsche ich mir auch für Männer.

 

Denn auch das macht mich wütend: Warum gibt es keinen Tag der Gleichstellung des Mannes? Auch für sie gibt es Ungerechtigkeiten. Bei Sorgerechtsstreits zum Beispiel ziehen sie meist den Kürzeren. Und dann ist da noch die sogenannte toxische Männlichkeit, Stichwort Boys don’t cry, die Männern sagt: Du musst immer stark sein, erfolgreich und hart. Du zeigst „Schwäche“? Du Lusche! Die Folge: risikoreicheres und gewaltbereiteres Verhalten, Einsamkeit, Depressionen und eine höhere Suizidrate, vor allem, da Betroffene sich aufgrund des vermeintlichen Stigmas oft nicht in Therapie begeben.

 

Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, gesellschaftliche Stigmata aufzubrechen, und zwar gemeinsam, mit allen an Bord, m/w/d.

 

Und deswegen habe ich mich für STRIVE entschieden. Dafür entschieden, Frauen sichtbarer zu machen, entschieden für eine Chefin zu arbeiten, für die Frauen in Führungspositionen selbstverständlich sind und dafür entschieden Teil der weiblichen Revolution zu werden.

Lasst uns mutiger werden, unseren Anspruch auf gleiche Chancen radikal einfordern, Seilschaften bilden, neue Lebensmodelle ausprobieren und Ungerechtigkeiten anprangern. 

Es gibt viel zu tun.

 

Über die Autorin:

Insa Schniedermeier ist Head of Online Content bei STRIVE. Ursprünglich kommt sie aus der Wirtschaft, hat BWL studiert und einige Jahre in großen Unternehmen und Beratungen als Marketing-Strategin gearbeitet. 2015 startete ihr erstes kleines Journalismus-Projekt wodurch sie anfing sich ab 2017 auf ihrem Blog www.prettyprettywell.com zu verwirklichen. Insa arbeitete als freie Redakteurin und Content Strategin und als Crossmedia Redakteurin bei der Business Punk. Ihren Ausgleich zum Arbeitsalltag findet die Yogalehrerin beim Laufen und Yoga. 

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