Elly Oldenbourg

19. Mai 2021

5 Min. Lesedauer

Wie ich durch meine Nebentätigkeit an Lebensqualität gewann

Als ich vor über vier Jahren beschloss, mein eigenes Verständnis von Arbeit zu verändern, hielt ich das für eine sehr persönliche Entscheidung. Doch das große Interesse für mein “non-lineares” Arbeitsleben, insbesondere als Sidepreneurin seitdem zeigt mir, dass außer mir noch viele andere Menschen mehr vom Leben und ihrem eigenen Handlungsspielraum erwarten, als das Ideal der 5-Tage-Woche bei einem Arbeitgeber.

Um gleich mit einem häufigen Missverständnis zum Thema “Sidepreneurship” aufzuräumen: Wer eine Anleitung voller Motivationssätze erwartet, wie man am schnellsten neben dem eigentlichen Job ein Millionen-Start-up auf die Beine stellt und sich mit 40 zur Ruhe setzt, wird hier nicht fündig. Als ich vor einigen Jahren meinen vermeintlichen Karrierejob auf drei Tage pro Woche reduzierte, tat ich das nicht, um in noch kürzerer Zeit noch mehr Geld verdienen zu können oder um mein persönliches Job-Portfolio weiter zu diversifizieren. Ich tat es, weil ich mich selbst nicht mehr wieder fand im Trott und Stress einer 5-Tage-Woche, im Ideal einer klassischen Karriere und in der Idee, dass all das irgendwie miteinander vereinbar wäre.

Wie ich durch meine Nebentätigkeit an Lebensqualität gewann
Wie ich durch meine Nebentätigkeit an Lebensqualität gewann

Was hab ich also getan? Neben Ehrenämtern und Mamasein und sonstigen Tätigkeiten, die so gern unter “Frei”-Zeit geparkt werden, bin ich zur Sidepreneurin geworden. 2017 gründete ich I CHOOSE, dessen Fokus in den ersten Jahren auf Coachings mit Einzelpersonen und Gruppen lag. Mit der Zeit kam ein philosophisches Café, der Morgen.Salon hinzu, irgendwann immer mehr Interview-, Panel-, Speaker- und Beratungs-Anfragen zum Thema “Zukunft der Arbeit”. Mittlerweile macht Letzteres den Großteil meiner Nebentätigkeit aus. An dieser kurzen Beschreibung sieht man schon, wie beweglich, flexibel, liquide man als Sidepreneurin sein darf.

 

Mehr Stress? Ne. Mehr Reichhaltigkeit, Freiheit und ein ständiges Lernen.

 

Klar, so eine Art des Neben-Unternehmertums ist nicht für jede oder jeden etwas, passt vielleicht auch nicht in jede Lebensphase. Eine durchschnittlich 60-Stunden-Arbeitswoche in einem “paid job” aber auch nicht – nur ist das zur vermeintlich alternativlosen Norm geworden.

 

Man braucht eine gewisse Lust am Generalistentum, ein Interesse an Vielem, am connecting-the-dots, an Agilität. Nicht nur, weil genau solche Fähigkeiten in gefühlt jeder Veröffentlichung zur neuen Arbeitswelt beschworen werden. Mein Eindruck ist, dass viele von uns schlicht vergessen haben, wie weit unsere Interessen, Talente und Fähigkeiten gehen und wie vielfältig wir diese einsetzen können. Genau dafür eröffnet die “Slash Career”, die “Schrägstrich Karriere”, um ein anderen Begriff dafür zu nutzen, eine Tür – die eigenen Fähigkeiten kommen stärker zum Ausdruck, nicht obwohl, sondern weil man verschiedene Rollen kraftvoll besetzt.

 

Ein ständiger Wandel zwischen “Old Work” und “New Work”

 

Aus meiner gelebten Erfahrung kann man als Sidepreneurin großartig Brücken bauen – zwischen Neu und Alt, zwischen kalkulierbar und grüner Wiese, manchmal sogar zwischen sicher und frei. In meinem Fall ist es so, dass mein Job als Managerin bei Google – in Teilzeit und meist im Jobshare – mir die Ruhe und Stabilität gibt, um mich mit vollem Mut und Elan in meine anderen Projekte zu werfen. Und meine Projekte und Unternehmungen als SidepreneurIn und Ehrenamtliche öffnen den Horizont und bringen mich dadurch auf jede Menge neue Ideen. Ich erkenne Zusammenhänge, die mir vorher nicht bewusst waren, sehe mehr Kontext. Davon profitiert mein Unternehmen, aber auch mein gesamtes restliches Umfeld.

Ich hätte vorher nicht gedacht, dass der Zugewinn an Lebensqualität und Selbstwirksamkeit tatsächlich so groß ist, dass am Ende alle meine “Jobs” von mehr Frische und Fokus profitieren. So habe ich auch gelernt, den Ausdruck „beschäftigt sein“, überhaupt “Arbeit”, anders zu bewerten. Arbeit ist dann großartig, wenn wir durch sie wirken und gestalten können. Sie wird zur Qual, wenn sie nur noch Mittel zum Zweck und meist fremdbestimmt ist. Dann raubt sie Energie, statt uns welche zu schenken, führt zur äußeren und inneren Rastlosigkeit. "Non-lineare” Jobkonstrukte verhindern genau diese Entwertung von Tätigkeiten abseits der einen Erwerbstätigkeit.

 

Systemkreativität: nicht aussteigen, sondern neu gestalten

 

Die bekannte und von mir bewunderte Ökonomin Prof. Maja Göpel hat vor kurzem ein Wort geprägt, das mir in diesem Zusammenhang sehr gefällt: „Systemkreativität“. Ich bin noch Teil des bekannten Systems, aber ich gehe kreativ mit den Möglichkeiten innerhalb des Systems um. Auch, indem ich mich selbst immer wieder hinterfrage, ob mir Freiheiten fehlen oder ich den Verantwortung meiner Umwelt gegenüber gerecht werde – und im Zweifelsfall flexibel genug bin, etwas anzupassen.

 

Wichtiger Disclaimer: Ich bin mir mehr als bewusst, dass dieser Lebens- und Arbeitsentwurf ein riesiges Privileg ist. Man muss es sich leisten können, sich nebentätig selbständig zu machen oder sonst wie zu engagieren. Ich für meinen Teil habe entschieden, meine Stimme in den zum Teil diffusen Debatten rund um die “Arbeitswelt der Zukunft” genau dafür zu nutzen. Ich möchte dazu beitragen, dass es eben kein Privileg bleibt, nicht mehr wahlweise privater Luxus oder optimierbare Verhandlungsmasse ist, das eigene Leben ganzheitlicher zu gestalten und einen ganzheitlicheren Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.

 

Die Tatsache, dass es ein so großes Interesse an Geschichten wie meiner gibt, zeigt mir: Ich bin mit meinem Lebens- und Arbeitsmodell immer noch eine Exotin. Und das ist auch der Grund dafür, warum ich Texte wie diesen schreibe. Denn ich sollte keine Exotin sein. Es gibt unzählige Menschen, insbesondere in großen Unternehmen, die das Privileg hätten, andere Arbeits- und Lebenszeitmodelle zu probieren, sich und ihre linearen Karrieren aber als unabdingbar sehen. Traut euch! Die (Arbeits)-Welt braucht mehr von “sowohl als auch” anstatt “keine Zeit”. Um den Weg für andere leichter zu machen – nicht zuletzt auch für uns selbst.

 

Über die Autorin:

Elly Oldenbourg ist Vieles. Seit 16+ Jahren im Marketing & Vertrieb von internationalen Unternehmen, 9+ Jahre davon Managerin bei Google, davon 4+ in Teilzeit und größtenteils im Jobshare, aktuell im Bereich Diversity, Equity & Inclusion. Nebenbei ist sie zudem selbständig – eine sogenannte „Sidepreneur“ – als Gastgeberin von Salons, als Coach oder Speakerin. In Kooperation mit der Female Leadership Academy ist Oldenbourg zudem Mitgründerin des erfolgreichen „New Work Online-Kurs". Seit einigen Jahren bringt sie ihre Stimme in Unternehmen und öffentlichen Debatten ein um neue Arbeits- und Lebenszeitmodelle aus der Exoten-Ecke rauszuholen. www.ellyoldenbourg.de

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