Kristina Kreisel
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Abnehmspritze: Warum wollen sich gerade alle schlank spritzen?

Hollywood hat es vorgemacht, jetzt ziehen die „­Normalos“ nach: Sie wollen mit vermeintlichen ­Wunderspritzen schnell und effektiv abnehmen. Was das über den Selbstwert unserer Gesellschaft ­verrät, warum längst überkommen geglaubte Schönheitsideale gerade jetzt ihre Renais­sance erleben und was das mit den Milliarden zu tun hat, die die Mittel in die Kassen der Pharmaindustrie spülen. 

Abnehmspritze: Warum wollen sich gerade alle schlank spritzen?
Ein Pieks und alles ist cool? Die Abkürzung über die Abnehmspritze klingt für viele verlockend. Foto: Jayson Hinrichsen

Adele (37) soll es getan haben. Ariana Grande (32), Robbie Williams (51) und Oprah Winfrey (71) eben­ falls. Und auch Demi Moore (62) schien im Frühjahr auf Hollywoods roten Teppichen erstaunlich dünn. Ozempic heißt das vermeintliche Wundermittel, das eigentlich ein Medikament ist, das Menschen mit Diabetes Typ 2 nehmen, um ihren krankhaft erhöhten Blutzuckerspiegel zu regulieren. Da Studien inzwischen gezeigt haben, dass der darin enthaltene Wirkstoff Semaglutid darüber hinaus beim Abnehmen helfen kann, ist die Substanz inzwischen auch zu diesem Zweck zugelassen – allerdings unter dem Namen Wegovy in deutlich geringerer Dosierung. Beliebt ist es längst nicht mehr nur in Hollywood: Weltweit schießen die Absatzzahlen in die Höhe.

Rund 7,8 Milliarden Euro Umsatz verbuchte der dänische Hersteller Novo ­Nor­disk mit dem Präparat allein 2024. Ein Plus von sagenhaften 85 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und auch 2025 dürfte ein äußerst lukratives Geschäftsjahr für ­Europas wertvollstes Pharmaunternehmen werden: Der Hersteller prognostiziert ein erneutes Umsatzwachstum von etwa einem Viertel.

Sylvia Weiner gilt deutschlandweit als eine der führenden Expert:innen für krankhaftes Übergewicht. Foto: Sana Klinikum Offenbach

An diesem Geschäft wollen auch immer mehr Anleger:innen teilhaben: Keine Aktie war in Deutschland im vergangenen Jahr beliebter als die von Novo Nordisk. Zu diesem Schluss kommt der „Trendmonitor Vermögensverwaltung 2024“ des Instituts für Vermögensverwaltung in Zusammenarbeit mit der Wealth-Management-Plattform Qplix. Für den Report untersuchten sie rund 62.000 Portfolios von mehr als 100.000 unabhängigen Vermögensverwalter:innen. Bis zu 138 Euro war ein Unternehmensanteil zwischenzeitlich wert, bis die Aktie aufgrund enttäuschender Studienergebnisse für potenzielle Nachfolge-Medikamente im zweiten Quartal dieses Jahres dramatisch abstürzte.

Eine entscheidende Rolle spielte dabei auch die Konkurrenz, bei der sich inzwischen ebenfalls herumgesprochen hat, dass sich mit Abnehmpräparaten sehr gutes Geld verdienen lässt: Im vergangenen Sommer brachte mit Eli Lilly der nächste Pharmakonzern eine Abnehmspritze auf den Markt. Ihre Wirksamkeit könnte Studien zufolge noch höher sein als beim Vorreiter-Produkt. Mit Tirzepatid enthält das Präparat des US-Herstellers zwar einen anderen Wirkstoff, das Prinzip aber ist das gleiche: Einmal wöchentlich in den Bauch spritzen und schon purzeln die Kilos. Also hoffentlich.

„Wenn ich einen gesunden Stoffwechsel falsch steuere, provoziere ich falsche Anpassungsmechanismen.“

Dr. Sylvia Weiner

Doch warum wollen das überhaupt so viele Menschen? Immerhin bringen beide Arzneimittel nicht nur vermeintliche Vorteile mit sich. Patient:innen berichten von teils schweren Nebenwirkungen wie Entzündungen der Bauchspeicheldrüse. Novo Nordisk warnt in seinem Beipackzettel vor Übelkeit und Erbrechen, Durchfällen, Kopf- und  Magenschmerzen sowie Müdigkeit, Blähungen, Verstopfung und Magen-­Darm-Grippe als häufigste Nebenwirkungen. Ernste allergische Reaktionen, Nierenversagen sowie Herzrasen seien ebenfalls möglich. Dr. Sylvia Weiner( 46) gibt noch etwas anderes zu bedenken: „Wir sehen, dass es bei nicht ausreichender Indikation und Bewegung zu einem Abbau der Muskelmasse kommt, was zu gefährlichen Nierenschäden führen kann.“ Was viele Patient:innen ebenfalls nicht wüssten: Wer gesund und normalgewichtig ist, könne sich mit den Abnehmspritzen eine Adipositas erst einhandeln. Denn: Die Präparate hemmen nicht nur das Hungergefühl. Sie greifen auch in den Stoffwechsel ein. Dieser sei bei übergewichtigen Menschen gestört. „Wenn ich einen gesunden Stoffwechsel falsch steuere, provoziere ich falsche Anpassungsmechanismen“, erklärt die Medizinerin, die am Sana Klinikum Offenbach das Adipositas-Zentrum leitet und als eine der deutschlandweit führenden Expert:innen für krankhaftes Übergewicht gilt. „Außerdem geht das Gewicht sofort wieder hoch, sobald man die Spritzen absetzt. Den Effekt kennen wir von kurzfristigen Diäten“, sagt Weiner.

Julia Tanck beschäftigt sich mit den Themen Selbstoptimierung und Einfluss von Social Media auf unser Schönheitsideal. Foto: Constanze Wenig

Dass weltweit unzählige Menschen ohne Adipositas-Krankheit bereit sind, diese nicht unerheblichen Risiken in Kauf zu nehmen, sagt viel über das Selbstwertgefühl unserer Gesellschaft aus. Denn: Waren wir nicht schon mal weiter? Hatten wir den absurden Magerwahn der 1990er-Jahre nicht längst hinter uns gelassen und uns darauf geeinigt, dass jeder Körper schön ist? Jein, sagt Dr. Julia Tanck (38). Die Psychologin und Psychotherapeutin beschäftigt sich seit Jahren mit den Themen Selbstoptimierung und Einfluss von Social Media auf unser Schönheitsideal. Dass schlanke Körper als attraktiv und erstrebenswert angesehen werden, gehe auf die Kolonialzeit zurück. „Schwarze, häufig mehrgewichtige Menschen wurden damals systematisch abgewertet und unterdrückt“, sagt sie. Diese rassistische Diskriminierung sei tief in unseren gesellschaftlichen Strukturen verankert und beeinflusse unsere Vorstellung von Schönheit unbewusst noch immer. „Wir leben in einer körperfixierten Welt und knüpfen einen Großteil unseres Selbstwerts daran, wie wir aussehen.“ Folglich seien viele Menschen bereit, ihr Aussehen zu verändern, um damit indirekt ihr Selbstbewusstsein zu stärken.

Die Body-Positivity-Bewegung wollte dies vor einigen Jahren ändern. Dass sie zumindest zwischenzeitlich sehr präsent und erfolgreich war, daran sieht die Expertin die Wirtschaft genauso beteiligt wie an der Tatsache, dass sie jetzt von der Renaissance längst überkommen geglaubter Schönheitsideale wieder verdrängt zu werden scheint.„Was als politisches Empowerment schwarzer, queerer und mehrgewichtiger Aktivist:innen entstand, wurde von Konzernen als Marketingstrategie für ihren Profit instrumentalisiert. Auf einmal war in jedem Werbespot eine mehrgewichtige Person zu sehen“, so Tanck. Doch genau diese Strategie scheint inzwischen ausgelutscht und nicht mehr performant. Tanck macht dafür die Algorithmen der bekannten Social-Media-Portale verantwortlich. Zwar hätten Plattformen wie Youtube und Instagram Körperformen demokratisiert. Heute können alle,  die das wollen, den eigenen Körper zeigen und sichtbar werden. Allerdings belohne der Algorithmus weiterhin bestimmte Körpertypen: schlank, glatt, jugendlich.

„Wir leben in einer körperfixierten Welt und knüpfen einen Großteil unseres Selbstwerts daran, wie wir aussehen.“

Dr. Julia Tanck

Wissenschaftlich belegen könne Julia Tanck dies zwar nicht. Inhaltsanalysen zeigten jedoch, dass solche Körpertypen massiv überrepräsentiert seien. Auch wer durch den eigenenFeed scrollt, dürfte darin auffallend viele Menschen finden, die dem über Jahrhunderte gelernten und tradierten Ideal entsprechen. Julia Tanck konstatiert: „Durch Social Media verinnerlichen wir ein unrealistisches Zerrbild und greifen im Extremfall zur Abnehmspritze – im verzweifelten Versuch, diesem Bild zu entsprechen. Die Schönheits- und Pharmaindustrie verdient Milliarden daran, dass wir uns ungenügend fühlen.“

Politiker Janosch Dahmen hat früher als Arzt praktiziert. Selbst Normalgewichtigen würde suggeriert, nicht dünn genug zu sein. Foto: Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag/Kaminski

Dieses Geschäft treibt inzwischen sogar die Politik um: Während Prof. Dr. Andrew Ullmann(62), Mediziner und gesundheitspolitischer Sprecher der Bundes-FDP, unlängst forderte, die Abnehmspritzen zur Kassenleistung zu machen, betont Dr. Janosch Dahmen (43, Bündnis 90/Die Grünen), dass die Volkskrankheit Adipositas das Gesundheitssystem zwar vor große Herausforderungen stelle; wer allerdings denke, dass wir den übergewichtigen Teil unserer Bevölkerung jetzt einfach „fit spritzen“ könnten, gehe „ahnungsarm an das Problem heran“ und unterschätze die Komplexität von Adipositas. „Ich warne deshalb vor der gefährlichen Glorifizierung vermeintlicher Wundermittel wie wir sie hier mit einem regelrechten Online-Hype auf die Abnehmspritze sehen.“ Selbst Normalgewichtigen würde suggeriert, nicht gut oder dünn genug zu sein. Bei vielen Betroffenen ende das in einem krankhaften Schamgefühl bis hin zu lebensgefährlichen Essstörungen, so der Politiker, der vor seiner Karriere im Bundestag ebenfalls als Arzt tätig war.

Und was sagen eigentlich die Pharmaunternehmen? Wegovy-Hersteller Novo Nordisk ließ eine entsprechende Anfrage von STRIVE bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Bei Eli Lilly teilte man zumindest mit, dass man sich „ausdrücklich gegen den Einsatz von Adipositas-Medikamenten aus kosmetischen Gründen“ ausspreche. Beide arbeiten laut Medienberichten bereits an Präparaten, die Abnehmen per Spritze noch einfacher und effektiver machen sollen.

Vielleicht könnten sie in diesem Zuge ja mal überlegen, ob wir nicht direkt eine Spritze für das Selbstwertgefühl hinbekämen. Denn die bräuchten die meisten vermutlich deutlich dringender.


Zahlen zur Abhnehmspritze

  • 7,8 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftete Pharmahersteller Novo Nordisk mit seiner Abnehmspritze Wegovy allein im Jahr 2024. Für 2025 erwartet das Unternehmen eigenen Angaben nach ein erneutes Wachstum von bis zu 26 Prozent.

  • 85 Prozent betrug die Umsatzsteigerung mit Wegovy 2024 im Vergleich zum Vorjahr.

  • 138 Euro war die Aktie von Novo Nordisk im Sommer 2024 zwischenzeitlich wert. Ein bislang nicht wieder erreichter Rekord.

  • 30 – Ab diesem Body-Mass-Index gelten Menschen laut Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als adipös und krankhaft übergewichtig. Viele Menschen, die mittels der Spritzen abnehmen wollen, liegen weit darunter.

  • Ab 170 Euro kostet eine Therapie mit Wegovy laut diverser Online-Apotheken im Monat. Bezahlen müssen Anwender:innen die Kosten selbst. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen das Medikament nicht.