Frühere Statussymbole wie pompöse Jobtitel, exorbitante Teams, Vorzimmer oder dicke Dienstwägen spielen als Instrumente der Macht dabei längst nur noch eine Untergeordnete Rolle. „Ich kenne viele Top-Manager:innen, die nicht mal mehr einen eigenen Schreibtisch haben. Die mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren“, sagt Sigrid Nikutta. „Das ist völlig normal geworden. Selbst in den DAX Unternehmen gelten die alten Insignien der Macht kaum noch.“ Auch sie selbst habe in ihrem Büro nur noch ein schmales Stehpult. Ansonsten arbeite sie mit ihrem Laptop am Besprechungstisch.
Ein lang unterschätzter Ausdruck und Hebel moderner Macht ist laut Anahita Thoms dagegen Sichtbarkeit. Auf LinkedIn ist die Rechtsanwältin längst Thought-Leaderin, knapp 65.000 Menschen folgen ihr. Thoms ist als Speakerin auf Konferenzen genauso gefragt wie von TV-Nachrichtensendern wie Bloomberg oder BBC.
Ihre Themen fallen in die Kategorie: unbequem. Sie setzt sich für komplexe, aber ungemein wichtige Themen wie die Gefahr von Handelskriegen und die Missachtung von Menschenrechten ein. „Klar bin ich auf LinkedIn aktiv“, sagt Thoms. „Aber nicht wegen der Likes, dann würde ich anders posten, sondern weil ich damit die Wirkung, die ich im echten Leben erzeuge, verstärken möchte.“ Sichtbarkeit sei für sie nie ein Selbstzweck, sondern immer ein Werkzeug. „Der alte Spruch ,Wissen ist Macht‘ stimmt zudem! Mein Netzwerk speist mich konstant mit Informationen, die ich, aufgrund der inhaltlichen und persönlichen Vielfalt der Menschen, sehr gut analysieren und in Perspektive zueinander setzen kann. Trends und Zukunftsthemen kann ich dadurch oft viel besser und schneller antizipieren.“ Auch Sigrid Nikutta betont, dass sich Macht zunehmend über neue Kommunikationskanäle zeige. So sei Sichtbarkeit früher an Zeitungsinterviews oder TV-Auftritte gebunden gewesen. Mittlerweile könne jeder Mensch mit der Öffentlichkeit kommunizieren und potenziell Einfluss nehmen. Unabhängig von Titeln. Schnell, direkt und selbstbestimmt. Doch egal, ob mit riesiger Reichweite, schlankem Stehpult oder im Eckbüro mit schwerem Eichenschreibtisch: Wie kann es künftig fundamental schneller gelingen, mehr Frauen in machtvolle Positionen zu bringen? Nicht, weil sie automatisch alles besser machen, sondern weil gleichberechtigte Führung und diverse Teams zu nachweislich besseren Entscheidungen führen.
Marion Horn sieht diesbezüglich auch die Frauen selbst in der Verantwortung „Ich wusste nie, was in fünf Jahren sein wird. Aber ich hatte immer etwas Trotziges in mir. Wenn ich etwas nicht konnte, wollte ich es erst recht“, sagt sie. Keinen ihrer Jobs habe sie zu Beginn vollständig beherrscht. „Doch wenn sich die Tür zur Macht öffnet, muss man durchgehen“, findet Horn „Wenn sich der neue Job anfühlt wie etwas, das Du heute schon kannst, brauchst Du ihn nicht.“ Karriere und der Aufstieg in mächtigere Rollen bedeuteten immer auch die Bereitschaft, zu scheitern und daran zu wachsen.
Doch damit endet die Verantwortung einflussreich gewordener Frauen nicht, findet Marion Horn. „Ich erwarte von jeder Frau in einer machtvollen Position, dass sie nicht die einsame Prinzessin bleibt, sondern andere mitzieht.“ Das unterstreicht auch Anahita Thoms, die sich seit Jahren ebenfalls als Mentorin vieler junger Frauen einbringt. Sie nutze jede Gelegenheit, Frauen in Räume einzuladen, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten. „Ich versuche immer, Türen zu öffnen, Netzwerke zu teilen, Chancen zu ermöglichen.“ Diese Bereitschaft des Brückenbauens, Mitnehmens und Mitdenkens wünsche sie sich von viel mehr Menschen in der Wirtschaft. „Bevor wir auf andere zeigen, sollten wir uns selbst fragen: Was kann ich in meinem Einflussbereich tun? Wen kann ich mitnehmen an den Tisch, an dem ich schon sitze? An vielen machtvollen Tischen sitzen inzwischen zumindest immer mehr Frauen. Andere Regeln als für die Männer, die neben ihnen sitzen, gelten häufig allerdings weiterhin, sagt Marion Horn. „Als ich mit 23 meine erste Führungsrolle als Ressortleiterin bekam, wurde mir unterstellt, mit wem ich dafür wohl geschlafen hätte“, erzählt die Bild-Chefin.
Zwar höre das langsam auf. „Doch wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer unterschiedlich beurteilt werden.“ Auch Sigrid Nikutta erinnert sich bis heute an eine prägende Situation aus dem Jahr 2007. Ein Vorstand sagte damals sinngemäß zu ihr, so erzählt sie, dass sie einen herausragenden Job mache. Dass sie ihr Chef als seine Nachfolgerin vorschlage, fänden er und seine Kollegen „sehr richtig“. Aber eine Frau als Chefin von über 60.000 Männern? Das könnten sie sich dann doch nicht vorstellen. „Das war der Moment, in dem ich richtig sauer war“, so Nikutta. Vier Wochen später fing sie den Job trotzdem an: „Offensichtlich wurde kein Besserer gefunden und das Geschlecht war plötzlich nicht mehr relevant. Ich übernahm den Job, sehr erfolgreich.“
Dass Frauen solche Situationen künftig nicht mehr erleben müssen, bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und zwar eine, die wir hoffentlich schneller bewältigen können als bisher: Sonst dauert es noch geschlagene 134 Jahre, bis Führungsrollen auf dieser Erde paritätisch besetzt sind, wie das Weltwirtschaftsforum 2024 ausgerechnet hat. „Es gibt einfach keinen sachlichen Grund, warum Führungspositionen heute noch überwiegend männlich besetzt sind“, konstatiert Sigrid Nikutta. „Aber ich habe das Gefühl, es ändert sich gerade vieles. Ich nehme inzwischen unheimlich viele Frauen wahr, die gestalten wollen.
Die bewusst Einfluss nehmen und einen Machtanspruch haben. Genau das brauchen wir an so vielen Stellen wie möglich!“ In diesem Sinne: Viel Freude mit dieser Sonderausgabe der STRIVE und den Geschichten der 100 einflussreichsten Frauen der deutschen Wirtschaft. Vielleicht sind es beim nächsten Mal ja schon 1000 Frauen, an denen man einfach nicht mehr vorbeikommt. Wie schön wäre das denn?!