Sarah Wiebold

vor 15 Tagen

5 Min. Lesedauer

The good, the bad, the ugly

New York und ich das war Liebe auf den ersten Blick. Zugebenermaßen eine relativ einseitige Liebe, ausgelöst von Faszination und Bewunderung und gleichzeitig einer gewissen Aussichtslosigkeit, jemals gemeinsam glücklich werden zu können. Bis ich Anfang 2019 nach Amerika zog. Nicht direkt in die City, aber immerhin in greifbare Nähe. Suburb ist das etwas sexy klingendere Wort für „wir haben es fast geschafft“.

Nach nun fast zwei Jahren in den USA beginne ich einige Dinge zu verstehen. Vor allem, dass wir Deutschen die Amerikaner wohl nie ganz verstehen werden.

The good, the bad, the ugly

Amerikaliebe war kontrovers in den letzten Jahren, zu sehr überschatteten politische Ereignisse, ein grausam geschmückter Weihnachtsbaum von Melania und die durch die Pandemie noch sichtbarer gewordene Missstände das, wofür sich Europäer seit Jahrhunderten aufmachen: den amerikanischen Traum zu leben.

 

New York dagegen macht es leicht, Amerika zu lieben. Die Stadt vibriert und es scheint, als würde sie einen Teil ihrer Energie an die Menschen abgeben. New York ist schnell, laut und dreckig. Aber in der Luft liegt dieses Gefühl des Aufbruches und der undefinierbaren Gewissheit, alles erreichen zu können. Ein Gefühl, das in mir eine positive innere Unruhe auslöst. Ein bisschen wie beim Laufen. Wenn man merkt, dass hinter einem jemand angerannt kommt und man selbst schneller rennt, um sich nicht überholen zu lassen. Um als Erste ins Ziel zu kommen. Einen zweiten Gewinner kennt New York nicht.

 

Je länger ich hier lebe, desto mehr wächst mir die amerikanische Kultur ans Herz. Umso vertrauter wird mir der „american way of life“, wie er in New York und Umland gelebt wird.

 

Manchmal aber schäme ich mich für meine Amerikaliebe. Vor allem da es natürlich so viele Dinge gibt, die mich zur Verzweiflung bringen und die mich fragen lassen, ob menschliches Miteinander im ehemaligen Trump Land möglich ist. Ein ungerechtes Steuer- und Sozialsystem, fehlende Grundversorgung im Gesundheitssystem, struktureller und gelebter Rassismus - es ist ja nicht so, dass man, wenn man hier lebt, all dies nicht mitkriegen würde.

Ehrlicherweise musste ich aber lernen, dass die deutsche Sicht der Dinge die Amerikaner nicht wirklich interessiert. Und trotzdem: Benutzt doch bitte keine Plastikkanister für eure Milch! Nach außen hin wird sich Amerika immer als Einheit sehen und auch wenn die Konflikte im Inneren fast unüberwindbar scheinen ist die Stärke und Einigkeit, der Nationalstolz und eine gewisse Arroganz ungebrochen. Genüssliche Versuche von außen auf die zahlreichen Missstände hinzuweisen – no way!

 

Und dann wiederum liebe ich Amerika. Für die grenzenlose Begeisterung, die mir immer wieder begegnet. Nie zuvor habe ich so viele Menschen getroffen, die so sehr für das brennen was sie tun. Die Kultur des Scheiterns – ganz anders als in Deutschland. Etwas nicht versucht zu haben, ist sehr viel schlimmer als mit einer Idee baden zu gehen.

Ich bewundere Amerika besonders für die Karrierechancen von Frauen, die hier signifikant höher sind. Das spiegelt sich in einem deutlich höheren Frauenanteil in Führungspositionen wider. Und diese Frauen unterstützen sich mit einem anerkennenswert verbreiteten Selbstverständnis gegenseitig darin, die gläserne Decke immer wieder zu durchbrechen. Die Gesellschaft akzeptiert individuelle Lebensmodelle und feiert sowohl Frauen in Spitzenpositionen großer Konzerne (die übrigens sehr häufig auch Mütter sind) genauso sehr wie Frauen, die sich für das Leben als „homemaker“ entscheiden. Das, was nicht verstanden wird, wird auch nicht verurteilt. Außer natürlich im christlich-konservativen „Bible Belt“, in dem Homosexualität weggebetet wird und in der sechsten Woche schwangere Frauen in der Car Pool Lane fahren dürfen. Perfektion ist eben auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine Illusion. Trotzdem bietet die amerikanische Sichtweise vielfältige Möglichkeiten, sich aus der eigenen Komfortzone zu bewegen.

 

Wofür ich die USA insbesondere in dem turbulenten Jahr 2020 lieben gelernt habe, ist ein neues Heldentum. Menschen haben auf der Straße ihr Leben riskiert, um mitten in einer Pandemie gegen Rassismus zu protestieren. Viele dieser Protestierenden waren jung. Teilweise zu jung, um wählen zu können. Sie haben Gummi-Geschosse abgewehrt, sich Tränengas aus den Augen gewischt und sind am nächsten Tag wieder auf die Straße gegangen, um für eine bessere und gerechtere amerikanische Zukunft zu protestieren. Sie haben eine weltweite Debatte gegen Rassismus ausgelöst. Mehr Menschen als je zuvor haben in Amerika unter teils schwierigsten Bedingungen gewählt, um die politische Richtung der USA in den kommenden Jahren mitzubestimmen.

 

Barack Obama hat in seiner letzten Rede als Präsident im Januar 2017 die Amerikaner um eine letzte Sache gebeten. Er sagte: „I am asking you to believe… Nicht in meine Fähigkeit, Wandel zu bewirken – sondern in eure.“

 

Nun stehen wir vor einer neuen politischen Ära. Kamala Harris, die erste Frau in dem Amt der US Vizepräsidentin, steht mit Joe Biden ganz oben an der Spitze dieses Landes. Wer die erste Rede der Madam Vice President - was für ein Titel! Ich wünsche mir sehr in Zukunft häufiger von Frauen mit solchen Titeln zu hören, statt „wifey of“ in Instagram Biografien zu lesen - gehört hat, weiß was für ein historisch bedeutsamer Moment sich hier ereignet hat. Geben wir ihr und Amerika doch die Chance Wandel zu bewirken.

 

Über die Autorin:

Als erstes die Vision, dann der Weg. Die Hamburgerin Sarah Wiebold war zehn Jahre Geschäftsführerin im familieneigenen Unternehmen. Anfang 2019 entschied sie sich mit ihrer Familie in die USA auszuwandern.

Mit Blick auf New York lernt sie nicht nur Land und Leute zu verstehen, sondern verwirklicht ihren Traum in Amerika ein Unternehmen zu gründen. Mit ihrer Chocolaterie Little Lotta Love will sie den US-Markt von europäischer Confiserie Kunst begeistern. Bei uns und auf ihrem Instagram Account ahoi.newyork schreibt sie über Traum und Wirklichkeit sowie Leben und Unternehmensgründung als Deutsche in Amerika.

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