Doch das war bei weitem nicht die einzige Hürde als Gründerin: Bei Terminen mit Vorständen bei Ärztekammern oder Krankenversicherungen hatte ich häufig das Gefühl als junge Frau, umgeben von Männern mit Doktortiteln, im ersten Moment nicht richtig wahrgenommen zu werden. Am Ende konnte ich die Vorstände in den Gesprächen doch stets für mich gewinnen mit Kompetenz und Selbstbewusstsein, denn dafür braucht es keinen Doktortitel. Und so waren drei Jahre und etliche Kämpfe später die technischen, rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen für telemedizinische Behandlungen geschaffen und unser Startup bei allen Schritten zur Zulassung der Telemedizin dabei. Im Jahr 2018 kam endlich mit der Aufhebung des Fernbehandlungsverbotes der Startschuss für Telemedizin in Deutschland. Die Behandlung per Videosprechstunde jedoch war zunächst nur Privatpatienten und Selbstzahlern vorbehalten. Mit der Zertifizierung des Videodienst durch die Kassenärztliche Vereinigung wurde das Angebot von TeleClinic im Mai 2020 für alle Kassenpatienten kostenfrei.
Neue Möglichkeiten durch Telemedizin während der Pandemie
Während einer Pandemie, in der niemand zusätzliche Wege auf sich nehmen oder stundenlang eng gedrängt in Arztpraxen sitzen möchte, war die Videosprechstunde der Retter in der Not. Laut einer Studie der Boston Consulting Group sagten 30 % der Patienten ihren Arzttermin während der ersten Welle der Pandemie aus Angst vor Infektionen in den Praxen ab – mit der Folge, dass sich ihre Erkrankungen verschlechterten. Dass schließlich das Limit der Ärzte für Fernbehandlungen vorübergehend aufgehoben wurde, machte die Nutzung einer Videosprechstunde erheblich attraktiver und führte innerhalb kürzester Zeit zu ihrem Durchbruch. Besonders wer von einer chronischen Krankheit betroffen ist oder in ländlichen Regionen lebt, profitiert vom schnellen und zeiteffizienten „Arztbesuch“. Denn gerade auf dem Land ist eine flächendeckende medizinische Grundversorgung noch immer ein Problem. Geeignet ist sie aber für alle: Familien mit Kindern, Alleinstehende, junge oder ältere Menschen. Online-Ärzte sind zu jeder Zeit, an jedem Ort verfügbar und garantieren damit eine optimale Gesundheitsversorgung.
Jedes Mal freue ich mich immer noch wie ein kleines Kind, wenn ich vergessen habe, ein Rezept beim Arzt zu holen oder dringend eines brauche und ich dies stattdessen auch ganz unkompliziert über die TeleClinic-App anfragen und damit zur nächsten Apotheke gehen kann.
Was den digitalen Arztbesuch von der Behandlung vor Ort unterscheidet? Im Grunde nicht viel. Digital wie analog analysiert der Arzt mögliche Diagnosen zum Behandlungsfall. Der einzige Unterschied ist, dass der Patient bei haptischen Untersuchungen mithelfen muss. Er ist der verlängerte Arm des Arztes und drückt zum Beispiel mit einem Löffel die Zunge nach unten oder tastet den Bauch unter ärztlicher Anweisung ab. Naturgemäß kann in den heimischen vier Wänden nicht alles durchgeführt werden, was in einer Praxis passiert, wie zum Beispiel das Blutabnehmen. Dennoch werden aktuell über 80 % der Behandlungen über TeleClinic abschließend behandelt, was bedeutet: der Patient muss anschließend nicht an eine lokale Arztpraxis verwiesen werden. Die Anliegen, mit denen sich Patienten an Online-Ärzte wenden, sind vielfältig. Grippale Infekte, Durchfall, Hautausschlag, Verhütung sowie alle gesundheitlichen Themen, die Kinder betreffen, zählen dazu, ebenso wie Blasenentzündungen, Husten, Bluthochdruck und erektile Dysfunktion.
Als Ergänzung zur herkömmlichen Sprechstunde entscheiden sich immer mehr Ärzte für telemedizinische Angebote, von 2017 bis 2020 stieg der Anteil der Ärzte von zwei auf 52 %. Auch für sie bietet die Flexibilität der Videosprechstunde viele Vorteile, zum Beispiel ein neues Arbeitsmodell. Ein Arzt aus München könnte zukünftig eine Praxis auf dem Land betreiben und feste Sprechzeiten vor Ort wie online vereinbaren, ohne den Wohnort dauerhaft aufgeben zu müssen.
Die Videosprechstunde macht unser Gesundheitssystem digitaler
Für die digitale Gesundheitsversorgung in Deutschland war 2020 ein entscheidendes Jahr, der Grundstein für eine digitale medizinische Versorgung wurde gelegt. Corona-bedingt haben viele Bürger im vergangenen Jahr erstmals den digitalen Arztbesuch genutzt. Die Videosprechstunde wird sich 2021 aber auch unabhängig von Corona etablieren. Denn Telemedizin hat auch außerhalb der Pandemie eine immer größere Bedeutung innerhalb des Gesundheitssystems, um eine flächendeckende Grundversorgung zu gewährleisten. Der Blick etwa in die USA und die skandinavischen Länder bestätigt, dass sie zukünftig ein integraler Bestandteil der Gesundheitsversorgung sein wird und ambulante wie stationäre Behandlungen sinnvoll ergänzt. Schätzungen zufolge werden in Deutschland bis 2026 fünf Prozent aller ambulanten Arztbesuche online durchgeführt werden – das entspricht 50 Millionen Behandlungen.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein auf diesem Weg wird die Einführung des gesetzlichen E-Rezepts ab dem 1. Juli 2021 sein. Dann ist es gesetzlich Versicherten möglich, Kassenrezepte vom Online-Arzt zu erhalten statt wie bisher ausschließlich digitale Privatrezepte. Patienten lösen das E-Rezept online oder vor Ort digital in der Apotheke ein, die Kosten für die Arzneimittel werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Ich freue mich immer noch jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn ich vergessen habe, ein Privatrezept beim Arzt zu holen oder dringend eines brauche. Dann frage ich es ganz unkompliziert über die TeleClinic-App an und hole das Medikament auf dem Weg ins Büro bei der nächsten Apotheke ab. Und bald ist das dann endlich auch mit Kassenrezepten möglich.
Fünf Jahre hat es gedauert von der Gründung bis zu dem Zeitpunkt, als Telemedizin für die breite Masse zugänglich wurde. Doch das ist noch lange nicht das Ende der Entwicklung von TeleClinic. Jetzt heißt es, Rahmenbedingungen schärfen, damit das volle Potenzial der Telemedizin künftig genutzt werden kann. Langfristig hat Telemedizin noch viel Entwicklungspotenzial zum Beispiel im Bereich der labordiagnostischen Möglichkeiten für die Selbstanwendung oder der künstlichen Intelligenz, die heute schon zum Beispiel bei administrativen Aufgaben wie die Terminvergabe in Praxen sinnvoll unterstützt. Diese Chancen sollten wir nicht nur nutzen, sondern mitgestalten und damit unser Gesundheitssystem besser und effizienter aufstellen.