STRIVE Redaktion
20. September 2021
You’re in Charge – Now What?
STRIVE+ Klare Worte: Carsten Horn (56) ist einer, der sie immer findet. Als CEO von Nordsee und mit seiner beeindruckenden Erfolgsbilanz (Tchibo, Cinemaxx) kann er sich diese Authentizität erlauben. Wir sprachen mit ihm über seinen Führungsstil, warum er sich nicht zugesteht, überfordert zu sein – und wie er seinen Töchtern beibrachte, mit stressigen Situationen umzugehen.
Carsten, drei Wochen vor dem ersten Lockdown haben Sie als CEO bei Nordsee angefangen. Wie sah das Onboarding aus und wie schafft man es, eine Firma aus dem Homeoffice als neuer Chef zu erobern?
Mit Struktur. Ein klassisches Onboarding gibt es in dem Sinne bei einem CEO nicht, man macht seine Due Diligence vor der Unterschrift. Wenn man als CEO nicht schon mit einer initialen Strategie reingeht, braucht man eigentlich gar nicht antreten. Es gab eine zweitägige Übergabe mit dem Interim-CEO und den Shareholdern, und das ist es dann auch schon. Im Anschluss hat man als CEO die volle Verantwortung für die Firma. Danach habe ich Interviews mit allen Führungskräften geführt und allen die gleichen acht Fragen gestellt – in Anlehnung an T.J. Neffs & J.M. Citrins Buch „You’re in Charge – Now What?“.
Welche Fragen sind das?
Erstens: Was ist deine konkrete Rolle und der Verantwortungsbereich?
Zweitens: Was sind deine KPIs und die qualitativen Ziele?
Drittens: Was sind die fünf wichtigsten Dinge, die wir unbedingt bei Nordsee bewahren sollten? Viertens: Was sind die drei wichtigsten Dinge, die wir ändern sollten?
Fünftes: Was wünschst du dir am meisten, was ich tun werde?
Sechstens: Was befürchtest du am meisten, was ich tun werde?
Siebtens: Welchen Rat hast du für mich?
Achtens: Gibt es irgendetwas, was du sonst gerne fragen oder diskutieren möchtest?
Das hört sich trivial an, ist es aber überhaupt nicht. Allein die Frage Nr. 1 liest sich einfach, fällt aber in der Beantwortung vielen schwer. Meine Hypothese ist, dass die Summe aller Antworten das ganzheitliche Bild einer laufenden Firma abgeben sollte und zum selben Ziel muss.
Wie ging es dann weiter?
Ab Woche zwei habe ich dann das sogenannte Corona-Crises-Programm aufgestellt (CCP): Protect, Restart, Restructure und Future Nordsee. Die wichtigste Frage war: Wie kommen wir schnell von den Kosten runter und wie sichern wir die überlebensnotwendige Liquidität?
Wann hat sich das Leben für Sie wieder ein bisschen normalisiert?
Gar nicht. Wir bewegen uns nach wie vor im „CCP-Modus“, unser Umsatz wurde letztes Jahr halbiert. Ein paar Tausend Mitarbeitende waren in Kurzarbeit, die Läden waren geschlossen. Deswegen treibt uns das Restart-Thema jetzt so um. Wie fahren wir die Organisation wieder auf volle Kraft hoch? Daneben haben wir uns aber auch konsequent um die Transformation der Firma und die vielen Zukunftsprojekte gekümmert. Immer mit dem Ziel, stärker aus der Krise rauszukommen, als wir reingegangen sind.
Wie sehen Ihre Pläne konkret aus?
Digital stehen wir bei drei bis vier Prozent vom Gesamtumsatz und werden diesen im nächsten Jahr verdoppeln. Im Bereich Home-Delivery haben wir verfünffacht, haben Click & Collect eingeführt, und wir haben Go!Fish als rein digitale Marke im deutschen Markt in Berlin gelauncht. Unsere Branche ist jetzt da, wo der Retail vor 15 Jahren war, und wenn wir vorne mit dabei sind, wird genau das unsere Chance sein.
Sie sind ein Profi im Self-Onboarding. Sind Sie auch gut im Offboarding? Woher wissen Sie, wann es Zeit ist, zu gehen?
Meine Assignments sind für mich immer mehr als ein Job, man könnte es auch als Mission, vielleicht sogar als Passion bezeichnen. Wenn man so arbeitet, gibt man immer alles. Das funktioniert auf Sicht aber nur, wenn das Umfeld und die Perspektive nach vorne stimmt. Es fällt mir schwer, mich auf Dauer in ein Firmenkonstrukt einzuordnen, das ich nicht ausreichend mitgestalten kann und wo ich Dinge tun muss, die dauerhaft gegen meine Grundüberzeugungen stehen. Ich habe da ein funktionierendes Frühwarnsystem, das mir sagt, dass dann Dinge grundsätzlich zu ändern sind. Offboarding wäre dann immer die letzte Handlungsoption.
Welche Erkenntnisse haben Sie für Ihren Führungsstil dabei gewonnen?
Führung entwickelt sich genauso mehrdimensional und exponentiell wie Sport oder Tech. Nehmen wir das Telefonbeispiel. 1970 haben wir mit der Wählscheibe telefoniert, heute haben wir alle Smartphones, die eine Datengeschwindigkeit und Speicherkapazität haben wie ein mittleres Rechenzentrum Anfang der 80er. Die Grundfunktion ist die gleiche, aber die Bedingungen und Möglichkeiten haben sich total geändert.
Es ist alles dramatisch komplexer und schneller geworden. 1970 war die Führungsdimension: Chef:in führt Mitarbeitende. Heutzutage ist Führung viel komplexer geworden. Es gibt nicht nur disziplinarische Führung, es gibt auch fachliche Führung, die Matrix-Organisation, Führung von Projekten und damit häufig keine klare Hierarchie. Stakeholder-Management und Shareholder- Management sind ebenfalls neue Anforderungen, die es in den 80ern nicht in der Bedeutung gab.
Was bedeutet das für Führungskräfte?
Ich muss als Führungskraft heute durch Fakten, durch Können und durch Content überzeugen. Und das ist gut so. Heute habe ich keine Follower:innen, die darauf warten, dass die „zündende“ Push-Idee aus dem Chefzimmer kommt. Sondern Sparringspartner:innen, die faktenbasiert mit mir diskutieren. Früher gehörte sich das nicht, heute ist es erwünscht.
Führung im 21. Jahrhundert braucht Leader:innen und keine Follower:innen!
Gibt es noch Momente, in denen Sie überfordert sind?
Ich lasse Überforderung bei mir selbst nicht zu, und es gilt stets das Motto: Es gibt immer eine Lösung. Es ist relativ simpel, es gibt für mich eigentlich nur zwei Arten der Haltung oder Attitüde bei Menschen: Du bist Victim oder du bist Player:in. Jede:r kann sich jeden Tag neu entscheiden, ob er oder sie ein Victim oder ein:e Player:in ist. Das mag hart klingen, verdeutlicht das aber eben sehr klar.
Wie sieht das aus, wenn Sie in Stresssituatio- nen in den „Player-Modus“ gehen?
Natürlich habe ich Momente, in denen ich merke, es ist gerade zu viel und es läuft nicht rund. Dann hole ich mir ins Bewusstsein, dass ich allein für meine „Player-Haltung“ verantwortlich bin, dann gehe ich an mein Whiteboard, mache die Tür zu und überlege, wie die Situation aus der Distanz aussieht. Ich versuche die Situation ganzheitlich zu verstehen, Lösungsoptionen zu skizzieren, zu priorisieren, und dann schaue ich, wen und was ich dafür brauche, um das Problem zu lösen.
Man sollte sich Überforderung bzw. den Situationen nicht einfach hingeben, wenn man sich „überfordert“ fühlt. Dann muss man eben was verändern. Wenn nicht ich, wer sonst?
Erinnern Sie sich an eine Situation in Ihrer Laufbahn, die besonders herausfordernd war?
Bei Tchibo z.B. gab es damals neben den vielen positiven Dingen auch einige Themen, zum Beispiel in der Unternehmenskultur, die ich nicht für richtig gehalten habe. Ich hätte genug Zuhörer:innen gefunden, mit denen ich gemeinsam mein „Leid“ geteilt hätte, das war aber nicht mein Ansatz. Das nenne ich Solidarität im Leid. Da habe ich den Player-Modus aktiviert. Ich hatte eins der größten Teams bei Tchibo, mit ca. 5.000 Leuten, und ich habe mir gesagt: Völlig unabhängig, was auf uns einströmt, wir können es für unsere Leute besser machen. Ich habe zu meinem Team gesagt: Entweder wir ärgern uns über die Situation oder wir machen es eben einfach besser. Und da wir der größte Bereich bei Tchibo sind, wird das gegebenenfalls sogar in den Rest der Firma positiv ausstrahlen.
Sie haben vier Töchter, die alle in ihrem Bereich erfolgreich sind. Was haben Sie ihnen mitgegeben?
Es gibt ganz wenig, was ich ausdrücklich und direkt weitergebe. Das Beste ist, glaube ich, wenn man konsistent sein Bestes gibt und den Kindern nichts aufdrückt. Das ist auch ein Führungsthema – führen durch Vorleben. Eins haben alle Töchter aber drauf, da kann man sie nachts um drei anrufen. Wenn sie in einer stressigen Situation sind, rufen sie eine strukturierte Verhaltensweise ab, die ich ihnen eingeprägt habe und stets selbst befolge.
Erstens: Ruhe bewahren. Zweitens: durchatmen. Drittens: nachdenken. Viertens: Einzelschuss.
Klingt beinahe militärisch!
Das kommt tatsächlich von einem General der US-Marines aus dem Vietnamkrieg, der seine Truppe darauf trainiert hat, wie sie im Dschungelkampf nicht in Panik geraten und sinnlos Munition verschießen, sondern ge- rade in Stresssituationen einen kühlen Kopf bewahren. Ich war noch nie in einer solchen Gefahrensituation, aber vorstellen kann ich es mir. Dieser Vierpunkteplan hat schon manche Stresssituation der Familienmitglieder entschärft. Und dazu gilt: Es gibt immer eine Lösung.
Carsten Horn (56) ist CEO von Nordsee. Beruflich startete er bei Max Bahr, stieg die Leiter hoch bei Blume2000 und Tchibo und sorgte als CEO von Cinemaxx, in einer längst vergessenen Zeit vor Corona, für Rekordumsätze. Horn lebt mit seiner Frau in Hamburg und zeitweise in Bremerhaven. Die vier Töchter leben in ver- schiedenen europäischen Städten.