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Zu hoch gestapelt? – oder was es mit dem Imposter-Syndrom auf sich hat

STRIVE+ | Viele Menschen haben Angst davor, dass andere ihre Erfolge als Bluff entlarven könnten – auch wenn sie verdient sind. Wer unter dem Imposter-Syndrom leidet, fühlt sich im Job als Hochstapler:in und hat Angst, aufzufliegen. Was kann man dagegen tun?


Angst davor, ein:e Hochstapler:in zu sein: Das Imposter-Syndrom. Foto: pixabay

„Mit dem neuen Job habe ich sicherlich nur Glück gehabt. Eigentlich kann ich gar nichts. Bestimmt merken es bald alle.“ Das ist die Gedankenwelt der Menschen, die am sogenannten Imposter-Phänomen leiden, das 1978 von den beiden Psychologinnen Pauline Clance und Suzanne Imes erstmals beschrieben wurde. Wer von diesem „Hochstapler-Syndrom“ betroffen ist, verbucht Erfolge nicht aufs eigene Konto und lebt in der ständigen Angst, als Taugenichts enttarnt zu werden – ein Gefühl, das erstaunlich weit verbreitet ist. Eine US-Studie rund um den Wirtschaftswissenschaftler Jeff Bednar von der Brigham Young University in Utah aus dem Jahr 2019 fand den Persönlichkeitszug bei rund 20 Prozent der teilnehmenden College-Student:innen – Frauen und Männer waren gleichermaßen betroffen.

Die deutsche Ärztin für Psychosomatik Michaela Muthig (44) hat dem Phänomen das Buch „Und morgen fliege ich auf“ gewidmet. Der Titel lässt die Schweißperlen auf der Stirn der Betroffenen ziemlich gut erahnen. „Diese Menschen haben die feste, oft in der Kindheit wurzelnde Selbstüberzeugung, nicht gut genug zu sein. Wenn sie etwa eine Beförderung erhalten, liegt es ihrer Auffassung nach nicht an der eigenen Leistung – sondern zum Beispiel am Glück oder einer zu erfüllenden Frauenquote. Das führt zu Stress“, so Muthig. Das Perfide: Mit zunehmenden Erfolgen kühlen die Selbstzweifel nicht etwa ab, sondern werden immer schlimmer. Auch vor Geld und Ruhm machen sie nicht halt. Die Oscar-Gewinnerin Kate Winslet (46) gab in einem Interview mit der Zeitung „The Mirror“ zu: „Manchmal wache ich morgens auf ... und denke, ich kann das nicht. Ich betrüge nur.“


„Einige Menschen trauen sich dann gar keine Karriere zu und schlagen Beförderungen aus. Andere nehmen solche Angebote an und fühlen sich in der Folge noch viel mehr fehl am Platz“ – Michaela Muthig

Und die Facebook-COO Sheryl Sandberg (52), eine der erfolgreichsten Frauen in der Tech-Branche, schrieb in ihrem ersten Buch „Lean In“ davon, dass sie bis heute manchmal das Gefühl habe, Erreichtes nicht verdient zu haben. Auch die Ärztin Michaela Muthig hat diese Gedankenspirale selbst erlebt. Nachdem der Verlag ihres ersten Buches über Selbstsabotage Interesse an einem Nachfolger signalisierte, ging sie los. Spätestens jetzt würde wohl herauskommen, dass Buch Nummer eins nur ein Zufallserfolg war, dachte sie. Sicherlich würde sie Verlag und Leserschaft mit der neuen Lektüre enttäuschen. Die Verunsicherung war da. Und das Thema für das neue Buch ebenso.

Während Selbstzweifel erst einmal normal sind, kann es dort, wo sie uns zu stark einschränken, zu körperlichen oder psychischen Belastungen führen. „Einige Menschen trauen sich dann gar keine Karriere zu und schlagen Beförderungen aus. Andere nehmen solche Angebote an und fühlen sich in der Folge noch viel mehr fehl am Platz“, so Muthig. Nicht selten fallen solche Menschen irgendwann krank aus oder kündigen, weil sie dem Druck nicht standhalten können. Das Imposter-Phänomen selbst ist zwar keine Krankheit, kann sich aber zu einer Angststörung oder Depression entwickeln – typische Stresssymptome wie Schlaflosigkeit, hoher Blutdruck, Herzrasen, Schweißausbrüche oder Panikattacken inklusive.

1. ERKENNEN, DASS DIE EIGENE SICHT VERZERRT IST In Coachings hat Muthig viele Menschen erlebt, die mit dem Thema kämpften. Für sich selbst hatte sie einen Weg gefunden, mit den Gedanken, die ihr erstmals im Studium kamen, umzugehen. Für das Buch entwickelte sie entsprechend ihrer persönlichen Methodik einen mehrstufigen Plan, mit dem die Leser:innen mithilfe zielführender Übungen gegen das Phänomen angehen können. Mit der eigenen Wahrnehmung geht es los. „Menschen, die am Imposter-Phänomen leiden, müssen sich zunächst einmal darüber bewusst werden, dass ihre Sicht verzerrt ist“, sagt Muthig. Sie selbst fand das in Gesprächen mit einer befreundeten Kollegin heraus. Als sie ihr gestand, dass sie sie für ihre strukturierte Art zu reden bewunderte, entgegnete die Kollegin, dass sie genau denselben Eindruck von ihr hatte. Die Fremdwahrnehmung einzufangen und mit der eigenen Sicht abzugleichen, hilft dabei, Diskrepanzen aufzuspüren. Wichtig ist auch, sich nicht auf die eigenen Fehler und Schwächen zu fokussieren, sondern auf die Erfolge. Fragen wie „Was habe ich gut gemacht?“, „Wo habe ich Anerkennung erhalten?“ oder „Worauf kann ich stolz sein?“ können in einem Erfolgstagebuch festgehalten werden.

2. DIE INNEREN KRITIKER:INNEN ABSTELLEN Im zweiten Schritt sollten gedankliche Bewertungen hinterfragt werden. „Wir zweifeln oft an Aussagen von anderen. Nur an unseren inneren Kritiker:innen zweifeln wir fast nie“, erklärt Muthig. Sie empfiehlt aber, genau diese auf den Prüfstand zu stellen. War es wirklich Glück oder Zufall, dass wir die Stelle bekommen haben? Hat uns tatsächlich nur das Vitamin B in die Position gebracht? Und wenn ja, warum sind wir dann immer noch da? Kann es nicht doch sein, dass wir uns den Erfolg selbst erarbeitet und verdient haben?

3. HANDELN – UND ZWAR GEGEN DIE EIGENEN GEFÜHLE Im letzten Schritt ist das eigene Handeln gefragt – und zwar gegen die eigenen Gefühle. „Wenn wir denken, dass wir nicht gut genug sind, verhalten wir uns entsprechend“, sagt Muthig. Sprich, wir vermeiden Herausforderungen. Wenn wir uns aber aktiv entscheiden, uns nicht zu verhalten, als wären wir klein und unfähig, bieten wir dem Imposter-Phänomen Paroli. Wer sich traut, aus der eigenen Komfortzone herauszutreten, kann neue und positive Erfahrungen sammeln – das funktioniert ähnlich wie bei einer Angststörung. „Angst wird auch nicht besser, wenn man sie vor sich herschiebt und Situationen vermeidet“, sagt die Ärztin. Wer immer wieder durch die Angst hindurchgeht, kann sie bewältigen. Muthig selbst hatte sich im Studium oft vor Vorträgen gedrückt. Als sie im Berufs- leben nicht drum herumkam, merkte sie plötzlich, wie sie immer sicherer wurde und sich schließlich weniger vorbereiten musste. Das Training hatte sie gelehrt, dass sie es kann. Michaela Muthig ist auch heute noch nicht von anfliegenden Selbstzweifeln befreit. Aber: Dank ihrer Strategien kann sie die sehr gut wieder einfangen. Heute weiß sie, dass sie der Aufregung vor anstehenden Herausforderungen keinen Raum geben muss und wie sie durch gewissenhaftes Abrufen ihrer Fähigkeiten den Leidensdruck eliminiert. Auch die Schauspielerin Kate Winslet lernte, mit dem Imposter-Syndrom zu leben. Sie nahm die Aufregung und die Angst vor dem Versagen als Teil des künstlerischen Prozesses an. So simpel kann es sein: Die Erkenntnis, dass man den eigenen Gedanken nicht immer glauben muss, kann Berge versetzen.

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