Anne Hünninghaus

21. Mai 2023

33 Min. Lesedauer

Ideen, die die Welt verändern: Wie entstehen Innovationen?

iPhone, Tesla, Internet: Ideen, die die Welt verändern, sind selten – vor allem made in Germany. Wie entstehen echte Innovationen? Sechs Expert:innen verraten, was es dazu braucht.

Ideen, die die Welt verändern: Wie entstehen Innovationen?
Ideen, die die Welt verändern: Wie entstehen Innovationen?

An der Goldgrube 12, das ist die Adresse der Zentrale von Biontech in Mainz. Heute kann man über den Straßennamen schmunzeln. Wie treffend: Innerhalb weniger Jahre gelang dem Biotechnologieunternehmen dank der erfolgreichen Entwicklung des Covid-Impfstoffs ein geradezu märchenhafter Aufstieg. Doch hinter den Gründer:innen liegen viele Jahre harter Arbeit ohne Rampenlicht, in denen es galt, weiterzuforschen, beharrlich zu bleiben sowie in die eigenen Visionen zu investieren.

So ist es unzähligen Innovator:innen in der Geschichte ergangen. Das Auto, das Internet: Bahnbrechende Entwicklungen kommen äußerst selten vor. Und werden anfangs oft kritisch beäugt. Man denke nur an die legendäre Fehlprognose, die IBM-Chef Thomas Watson zugeschrieben wird. Im Jahr 1943 soll er gesagt haben: „Ich denke, dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt.“ Biontech und die mRNA-Technologie werden häufig genannt, wenn es um Sprunginnovationen made in Germany geht. Der Softwaregigant SAP, dessen Gründung 1972 schon eine ganze Weile zurückliegt, ebenfalls.

Nach diesen zwei Beispielen wird es dann auch schon dünn. Erfolgreiche Unternehmen, die am Puls der Zeit bleiben, Trends verstehen, sich digitalisieren? Klar, davon gibt es viele. Aber das ist quasi nur Innovation light. Das Gleiche gilt für die sogenannten Copycats, die hierzulande Ideen aus den USA abkupfern, etwa die Samwer-Brüder in den 2000er-Jahren. Der digitale Schuhversand Zappo läuft jenseits des Atlantiks gut? Dann kann Zalando im deutschsprachigen Raum doch sicher auch zum Hit werden.

„In Krisenzeiten setzen etablierte Unternehmen lieber auf Sicherheit, optimieren ihr Kerngeschäft, statt etwas Neues zu schaffen.“ Philipp Westermeyer, OMR-Gründer

Zur Königsklasse gehören indessen disruptive und radikale Innovationen. Jene, die bestehende Märkte mit neuer Technologie aufmischen, wie es etwa mit der App Uber und dem Taxibusiness geschehen ist. Oder gar solche, die einen ganz neuen Markt schaffen. Wäre das Antibiotikum nicht erfunden worden, hätte ein ganzer Pharmazweig nie entstehen können. Eigentlich bietet die aktuelle Weltlage die perfekte Bühne, um revolutionäre Ideen radikal umzusetzen: die stockende Energieversorgung, Klimakrise, Weltraumerkundung und das Aufkommen künstlicher Intelligenz (KI). Da ist es fast schon erstaunlich, wie wenig passiert.

„In Krisenzeiten wie der momentanen setzen etablierte Unternehmen lieber auf Sicherheit, optimieren eher ihr Kerngeschäft, statt etwas komplett Neues zu schaffen“, beobachtet Philipp Westermeyer (44). Der Gründer der Hamburger Medien- und Eventplattform OMR weiß, was es braucht, um Innovationen zu entwickeln. Er spricht darüber regelmäßig in seinem Podcast mit Gründer:innen und Unternehmer:innen und gibt dem Thema auf seiner Digitalmesse eine Bühne. „Viele verschieben Wachstumsfelder von Offline zu Online oder starten in die Direct-to-Consumer-Vermarktung“, sagt Westermeyer.

Doch insgesamt feierten in den vergangenen Jahren nur wenige ganz große Innovationen Erfolge. Das ist auch eine Mentalitätsfrage. Während der American Dream zu hohen Sprüngen, zu Disruptionen anregte, setzte man in den Nachkriegsjahren in Deutschland lieber auf Sicherheit. Kopieren statt neu erfinden. Festanstellung statt Gründergeist. Hinzu kommt, dass der deutsche Markt vergleichsweise klein ist. Innovationen, die hier entstehen, schaffen nicht zwangsläufig den globalen Durchbruch.

DIESE VIER ARTEN VON INNOVATIONEN GIBT ES

1. Inkrementelle Innovation Die grundlegende Technologie ist bereits vorhanden, wird nur verfeinert und erweitert. Der Markt existiert schon. Beispiel: wenn das neueste iPhone mit Zusatzfunktionen und besserer Kamera auf den Markt kommt.

2. Architektonische Innovation Mit bestehender Technologie wird ein neuer Markt erobert. Verpackt etwa ein Smartphone-Hersteller seine Technologie in eine Uhr und schafft Smartwatches, wird er neue Kund:innen ansprechen.

3. Disruptive Innovation

Ein bestehender Markt wird durch eine neue Technologie aufgebrochen. Ein Beispiel ist die App Uber, die das Taxibusiness disruptiert hat.

4. Radikale Innovation

Die seltenste Innovationsform zeichnet sich dadurch aus, dass mit neuer Technologie ein neuer Markt aufgemacht wird. Die Erfindung des Flugzeugs oder des Computers fällt darunter.

Wie haben Unternehmen bisher innoviert? Wenn etablierte Unternehmen dann doch innovieren, läuft das häufig über Accelerators oder Hubs. Diese treiben als Beschleuniger den Wachstumsprozess in der Frühphase von Startups mittels Know-how und Coaching durch Spezialist:innen voran. Zum Beispiel setzt Eon darauf, junge Unternehmen zu fördern – auch, um von deren zukunftsträchtigen Ideen zu profitieren. So bietet etwa Dezera Softwarelösungen, um den Betrieb von Stromerzeugern zu automatisieren.

Die Telekom hatte mit Hubraum bereits 2012 eine Kombination aus Accelerator- und Inkubatorprogramm geschaffen, um mithilfe von Startups einen besseren Zugang zu innovativen Technologien zu bekommen, um etwa den Netzausbau und den Einsatz von KI voranzutreiben. Ein Inkubator ist ein „Brutkasten“ für Startup-Ideen. Schnelligkeit steht hier weniger im Fokus. Gründer:innenteams werden unterstützt, indem sie auf Wissen, Netzwerke, Büros und andere Ressourcen zurückgreifen können. Miele will darüber neue Geschäftsideen entwickeln, die das eigene Kerngeschäft, beispielsweise den Smarthome-Bereich, innovieren.

Und dann gibt es noch Company-Builder, die darauf spezialisiert sind, Startups zu gründen, zu finanzieren und über einen langen Zeitraum zu begleiten. Hinter Finanz-Startups wie der Solarisbank oder Clark steckt beispielsweise der Fintech-Company-Builder Finleap.

„Schnelle Innovationen brauchen eine starke Führung“

Der deutsche Mittelstand steht kaum für große Innovationen. Sie bezeichnen sich als Disruptive Entrepreneur.

Wir sehen uns nicht als klassisches Familienunternehmen, das träge, behutsam und wertkonservativ ist. Stattdessen setzen wir auf schnelle Innovationen und sind immer bereit, das eigene Geschäft phasenweise zu kannibalisieren, um langfristig neue Trends zu setzen. Wir wollen First Mover sein.

1995 war HRS früh dran, wagte den Schritt vom Katalog zur Online-Hotelbuchungsplattform. Welche Innovationen haben Sie zuletzt vorangetrieben?

Neue Entwicklungen schnell zu adaptieren, ist uns wichtig. Wir nutzen unsere Buchungsinfrastruktur, um Menschen schnell unterzubringen, wenn Naturkatastrophen wie Waldbrände in Australien oder Überschwemmungen in Kalifornien auftreten. Und: Wir bieten Hotels eine Plattform, um ihre Nachhaltigkeitsdaten an Unternehmen weiterzugeben. Innovativ ist, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen.

Zum Beispiel?

Bei Onlinebuchungen war immer das Ziel, die Transaktion so einfach wie möglich zu gestalten. Durch den engen Austausch mit unseren Firmenkunden haben wir festgestellt: Die bewegt etwas ganz anderes. Wie wird die Buchung abgerechnet, versteuert? Wir haben kurzerhand einen neuen Zahlungsprozess programmiert und uns für eine Banklizenz qualifiziert. So können wir den kompletten Workflow abdecken, von der automatischen Abwicklung bis zur Rechnungsstellung, Korrektur und Abstimmung. Sieht man ein Problem, muss man direkt loslegen. Wenn eine Idee zu 80 Prozent umgesetzt ist, kann man sie auch schon live gehen lassen und agil weiterentwickeln. Es ist ein Fehler, alles perfekt haben zu wollen, bevor man startet.

Von wem kommen solche Ideen?

In diesem Fall kam der Impuls von mir. Sie sollten aus der Unternehmensspitze bzw. von Strategieverantwortlichen kommen. Das Innovieren an bestimmte Bereiche auszulagern, funktioniert nicht. Es braucht ein tiefes Verständnis, wie der Markt funktioniert.

Das heißt, Rapid Innovation funktioniert im Unternehmen ehervertikal? Unternehmen, die alle Entscheidungen auf basisdemokratische Weise treffen, verpassen oft die Chance auf schnelle Innovationen. Um Rapid Innovation umzusetzen, benötigt es motivierte Mitarbeiter sowie eine enge Zusammenarbeit und schnelle Entscheidungswege. Alle Beschäftigten sollten den Wert ihres Beitrags fürs große Ganze erkennen. Aber es braucht auch Top-down-Management. Das ist pragmatisch – und eine Verantwortungsfrage.

Inwiefern?

Innovationen bedeuten immer auch Risiken und erfordern eine harte Priorisierung. Ich kann Teams nicht auffordern: Macht euren Alltagsjob und legt für das neue Projekt noch mal 20 Prozent obendrauf. Unternehmer müssen Mut und die Entschlossenheit haben, vom Standardgeschäft abzuweichen und neue Wege zu gehen.

WO LAUERN DIE NÄCHSTEN GROSSEN INNOVATIONEN?

Nachhaltigkeit

So wie schon jetzt kaum eine Innovation ohne Digitalisierung auskommt, wird sich bei den kommenden Neuerungen alles um das große Thema Nachhaltigkeit drehen. Ob Treibstoffe, Energie, Logistik oder Food: In jeder Industrie werden radikale neue Lösungen essenziell, die sich auf die komplette Wertschöpfungskette erstrecken. Startups wie Concular wollen beispielsweise dabei helfen, die veraltete Bauwirtschaft in eine zeitgemäße Kreislaufwirtschaft zu transformieren. Hier können die – gerade in Europa – scharfen gesetzlichen Vorgaben Innovationen sogaranheizen.

B2B statt B2C

Während sich zuletzt der Fokus von Innovationen darauf richtete, Endkund:innen das Leben leichter zu machen, rücken mehr und mehr B2B-Lösungen – also Business-to-Business-Lösungen – ins Visier.

Künstliche Intelligenz

Noch wird mit KI-Tools wie ChatGPT vorrangig herumgespielt. Aber Unternehmen wie Celonis arbeiten bereits jetzt auf Hochtouren daran, Industrieprozesse mithilfe von künstlicher Intelligenz grundlegend zu modernisieren.

Welchen Rahmen braucht Innovation? Innovationen brauchen passende Voraussetzungen – diese haben Unternehmer:innen und Erfinder:innen nur bedingt selbst in der Hand. Aber es gibt einige Elemente, die es unbedingt zu integrieren gilt, um etwas wirklich Neues hervorzubringen. Wir haben mit Expert:innen gesprochen, worauf es ankommt, und sieben Elemente ausgemacht, die es für echte Innovation braucht.

„Wenn man einen unserer Software- Ingenieure fragt, was er so macht, sagt er nicht: Ich schreibe Codes. Sondern: Ich heile Krebs.“ Stefan Vilsmeier, Brainlab-Gründer

1. Eine mutige Vision

Ende der 80er-Jahre hatte Stefan Vilsmeier (55) eine Idee: mithilfe von eigens entwickelter Hard- und Software die Chirurgie und Strahlentherapie zu revolutionieren. Noch im ersten Semester brach er sein Informatikstudium an der TU München ab und gründete Brainlab. Heute gehört der bayerische Medizintechnikspezialist in diesem Bereich zu den Weltmarktführern, beschäftigt rund 2.200 Mitarbeiter:innen. In 122 Ländern greifen Mediziner:innen in der Behandlung von Krebs und anderen Krankheiten auf dessen Systeme zurück. „Ich war damals nicht der brillanteste Softwareprogrammierer und bin es heute auch nicht“, sagt Vilsmeier. Auch ist er kein Arzt. Aber er hatte eine Vision – und Mut.

Sein Vorteil: Er war frei von Betriebsblindheit, unverbildet, wie er sagt. „Von außen können wir bestehende Prozesse manchmal besser infrage stellen als eingefleischte Profis.“ Daher setzte Vilsmeier damals wie heute in seiner Belegschaft auf eine möglichst bunte Mischung aus Expert:innen und Fachfremden. Seine Erfahrung zeigt: Neue Lösungen zu entdecken, funktioniert am besten mit einem diversen Team. Jede:r müsse zudem verstehen, welchen Beitrag er oder sie persönlich leistet, um die Vision wahr werden zu lassen. Purpose beflügelt dabei, alle müssen den Sinn ihres Tuns erkennen. „Wenn man einen unserer Software-Ingenieure fragt, was er so macht, sagt er nicht: Ich schreibe Codes. Sondern: Ich heile Krebs“, erzählt Vilsmeier.

2. Routinen infrage stellen

Am Anfang jedes Innovationsprozesses sollte die Frage stehen: Welche Probleme gilt es zu lösen? Worauf wartet der Markt? Dafür Hypothesen aufzustellen, gelingt am besten unverkrampft. „Innovatives Denken wird durch Freude und Leichtigkeit befeuert“, sagt Henrike Luszick (37), die den Corporate-Venture- Builder Bridgemaker mitgegründet hat. Sie ist dessen Geschäftsführerin und unterstützt Unternehmen – vor allem aus dem Mittelstand – darin, Geschäftsmodelle aufzubauen und Innovationen zu kommerzialisieren.

Mit dem Familienunternehmen für Küchentechnik Blanc & Fischer erschloss Bridgemaker zum Beispiel erstmals den D2C-Markt mit der eigens entwickelten Marke Atoll, die nun Outdoorküchen und multifunktionale Kochtische mit Induktionstechnologie produziert. Manche Unternehmen hätten anfangs die Idee, die Innovationsspielwiese auszulagern.

Aber so einfach sei es nicht, meint Luszick: „Wenn es einen fancy Hub in Berlin gibt, aus dem die Innovationen kommen sollen, fühlen sich die Beschäftigten am Hauptsitz schlimmstenfalls abgehängt oder ausgeschlossen.“ Stattdessen sei Integration wichtig, indem alle Mitarbeiter:innen dazu ermuntert würden, ihre jeweiligen Arbeitsbereiche immer wieder neu zu denken. „Auch bei Innovationen geht es um die menschliche Komponente, um Freude. Wenn Mitarbeiter:innen dazu angeregt werden, ihre Tätigkeiten und Routinen infrage zu stellen und zu erneuern, ist viel gewonnen“, sagt Luszick. Aber das bunte Bällebad kreativer Einfälle reicht natürlich nicht.

Wer innoviert hierzulande?

Alexander Rinke, Celonis

Zusammen mit seinen Co-Gründern Bastian Nominacher und Martin Klenk wurde Celonis-CEO Alexander Rinke (34) vom „Handelsblatt“ zum Unternehmer des Jahres 2022 gekürt. Das Münchner Softwareunternehmen mit rund 3.000 Mitarbeiter:innen ist der weltweite Marktführer für mit KI unterstützte Prozessverbesserungen in großen Unternehmen.

Zu den Kunden, deren interne Abläufe Celonis durchleuchtet und mittels KI optimiert, gehören große Unternehmen wie die Deutsche Bank. Der Spezialist hilft ihnen zum Beispiel dabei, Lieferketten transparent zu machen und ihr Geschäft nachhaltiger aufzustellen. Zurzeit ist Celonis mit circa 13 Milliarden US-Dollar bewertet.

Özlem Türeci, Biontech

Seit dem Softwareunternehmen SAP hat wohl kein Unternehmen in Deutschland für eine solche Sprunginnovation gesorgt wie Biontech. Die Medizinerin Özlem Türeci (56) gründete das Mainzer Biotechnologieunternehmen 2008 zusammen mit ihrem Ehemann Uğur Şahin (57) und forscht auf dem Gebiet der Immunologie.

Nach dem großen Durchbruch mit der Entwicklung eines wirksamen Corona-Impfstoffs erreichten das Paar und sein Unternehmen 2020 Berühmtheit. 2021 machte Biontech einen Umsatz von 18,98 Milliarden Euro. Jetzt will Türeci, die Tochter türkischer Einwanderer:innen ist, ihr ursprüngliches Ziel weiterverfolgen: einen mRNA-basierten Krebsimpfstoff zu entwickeln.

Hanno Renner, Personio

Der Mitgründer und CEO von Personio, Hanno Renner (32), hat vielen das Leben leichter gemacht. Dank der Human-Resources-Software können Arbeitgeber:innen auf viel Papierkram verzichten. Krankschreibungen einreichen, Urlaubstage beantragen? Läuft alles online.

Renners Software unterstützt Personalabteilungen durch digitalisierte Cloudlösungen vom Rekrutierungs- bis zum Entwicklungsprozess der Mitarbeiter:innen. Das Unicorn aus München wurde 2015 gegründet und gehört mit einer Unternehmensbewertung von 8,5 Milliarden US-Dollar zu den wertvollsten B2B- Startups des Landes. Laut eigenen Angaben hat es 1.700 Beschäftigte und einen Umsatz in dreistelliger Millionenhöhe.

Susanne Puello, Winora

Als Urenkelin des Gründers von Winora, einem Fahrradhersteller aus Schweinfurt, kam Susanne Puello (62) früh in Kontakt mit der Branche. 20 Jahre lang leitet sie das Unternehmen. Unter ihrer Führung wird 2009 das erste geländetaugliche

E-Mountainbike mit Motor im Rahmeninneren entwickelt.

Sie erkennt das Potenzial von E-Bikes früh, will diese weg vom Oma-Image leiten. 2017 gründet sie zusammen mit ihrem Ehemann Felix Puello den Radbauer Pexco. Innerhalb eines halben Jahres entwickeln sie zwei vollständige Radkollektionen. Mit Erfolg: In zwei Jahren setzen sie mit rund 70 Mitarbeiter:innen mehr als 80 Millionen Euro um. 2019 verkaufen sie an das österreichische Familienunternehmen Pierer Industrie AG.

Ijad Madisch, Research Gate

Mit seinem Netzwerk Research Gate revolutioniert der Wolfsburger Virologe Ijad Madisch (42) die Wissenschaft. Die Plattform, deren CEO

er heute ist, gründete er 2008 während eines Aufenthalts in den USA. Research Gate ist eine Mischung aus sozialem Netzwerk für Forscher:innen und zentraler Datenbank für wissenschaftliche Publikationen. Weltweit wird die Plattform von knapp 20 Millionen Wissenschaftler:innen genutzt.

Madisch, dessen Eltern aus Syrien eingewandert waren, hat für seine Idee mehrere Innovations- und Unternehmerpreise abgeräumt.

3. Klare Prozesse

Um eine große Vision in die Tat umzusetzen, muss ein strukturierter Prozess her. Erst mal werden Hunderte Hypothesen aufgestellt, die erklären, warum die Welt ausgerechnet auf dieses neue Produkt, die neue Dienstleistung, das neue Geschäftsmodell warten sollte. Und dann gilt es, diese Hypothesen systematisch zu überprüfen. „Ich empfehle, schon ganz früh mit Prototypen zu testen, ob sie ankommen. Einfach mal eine Landingpage bauen und schauen, ob Menschen tatsächlich auf den Kaufen-Button drücken“, rät Luszick.

Ob eine Innovation erfolgreich ist, hängt vor allem von der konsequenten Ausführung ab. Es müssen ausreichend Zeit und Ressourcen in das neue Projekt gesteckt werden, nebenher läuft das nicht. „Und es braucht Beharrlichkeit“, betont Luszick. Der Markt erkennt den Wert der Innovation noch nicht? Dann gilt es, so lange an den einzelnen Schräubchen zu drehen, bis der Durchbruch gelingt. Zumindest, solange man tatsächlich eine Lösung für ein Problem schafft, das viele Menschen bewegt.

4. Costumer-Centricity

Wenn eine Idee keine tatsächlich gefragte Lösung bietet, darf man andersherum nicht ewig daran festhalten. In der Praxis erlebt Luszick häufig, dass dies vielen schwerfällt. Weil jemand ein ominöses Bauchgefühl hat. „Ich höre dann oft: Ich selbst würde das kaufen! Obwohl die Testballons und Kundenbefragungen etwas anderes ergeben haben“, sagt die Innovationsexpertin. Bevor die eigene Liebhaberei über lange Zeit die harten Fakten des Markts überschattet, hilft nur ein Motto: Kill your Darlings! Am besten ist es, schon sehr früh mit potenziellen Kund:innen in den direkten Dialog zu treten.

Tesla ist die Benchmark

Tesla gilt als ein Paradebeispiel für innovative Unternehmen. Zu Recht? Absolut, Tesla ist nach wie vor die Benchmark. Elon Musk ist es gelungen, das Auto komplett neu zu erfinden. Um das zu tun, muss man radikal sein. Die Automobilindustrie funktioniert eigentlich in Arbeitsteilung: Man schafft ein neues Modell und lässt sich die Teile dafür zuliefern. Mit dem E-Auto war plötzlich der Verbrennungsmotor wertlos, Getriebe und Karosserie waren völlig anders nutzbar. Tesla musste als Konsequenz alle Produktionsschritte selbst abdecken. Das ist echte Innovation: den Wertschöpfungsprozess neu zu ordnen.

Braucht es für ein so radikales Vorgehen eine bestimmte Unternehmerpersönlichkeit?

Vermutlich haben alle großen Innovator:innen ein spezielles psychologisches Profil. Sie sind fest davon überzeugt, dafür bestimmt zu sein, einen Beitrag zu leisten. Gleichzeitig haben sie die Paranoia, dass sie scheitern könnten. Man muss sich erbarmungslos fokussieren und an Dinge glauben, die außer einem selbst niemand sieht. Viele denken bei Innovationen an Daniel Düsentrieb, der aus Spaß an der Sache tüftelt. Das ist ein irreführendes Bild, es geht vor allem um die tägliche, konsequente Exekution.

Weil es bei Innovationen nicht um den Spaß an der Sache geht?

Es geht um den Antrieb, ein relevantes Problem zu lösen. Bei der Digitalisierung von Geschäftsmodellen ist der Ausgangspunkt in der Regel der Kostendruck, denn analoge Prozesse sind teuer. Beim Klimawandel sieht das anders aus. Um Energie und Mobilität in Zukunft zu gewährleisten, braucht es grundlegend neue Ideen, sonst bleibt der Durchbruch aus. Und die müssen – wie bei Tesla – die komplette Wertschöpfungskette umfassen, um sie überhaupt zu revolutionieren.

5. Starke Führung

Bei Innovationen denkt man natürlich auch an sie: die exzentrischen bis genialen Köpfe, in denen sie herangereift sind. Posterboy der technologischen Schöpferkraft war lange Zeit Multiunternehmer und Tesla-Gründer Elon Musk (51) gewesen, bevor er zuletzt mit dem Kauf von Twitter und mehr als fragwürdigen politischen Statements im Rampenlicht stand. SAP-Mitgründer Hasso Plattner (79) indessen hielt sich immer eher im Hintergrund, förderte junge Talente. Es kommt nicht nur auf Charisma an: Gründer:innen und Visionär:innen sollten über Disziplin, Zuverlässigkeit und Demut verfügen, dürfen sich nicht so schnell entmutigen lassen und sollten Umwege in Kauf nehmen können. Und zugleich ihre Verantwortung erkennen, zu Vorbildern und Enablern ihrer Teams werden. Das funktioniere oft am besten bottom-up, wie Tobias Ragge (46), Chef des Kölner Touristikunternehmens HRS Group, im Interview verrät.

6. Stringenz über die gesamte Wertschöpfungskette Doch auch jenseits des Führungsstils als solchem erfordern Innovationen ein stringentes, fast schon radikales Vorgehen. Wenn ein Unternehmen seine Produkte plötzlich nicht nur im Laden, sondern auch online verkauft, ist das nur wenig innovativ. Auch Marktforschung hat einen begrenzten Wert. Man denke an das berühmte Zitat von Henry Ford zur Erfindung des Autos: Wenn man sie gefragt hätte, was sie sich wünschen, hätten die Menschen schnellere Pferde gewollt. Philipp Schröder (39), ehemaliger Chef von Tesla Deutschland und Gründer des Grüne-Energien-Startups 1Komma5, betont den Mut, größer zu denken. „Echte Innovationen ziehen sich durch die komplette Wertschöpfungskette“, sagt er. Wenn alles umgewälzt werden muss, bedeutet das auch: Das Risiko steigt. Und das macht hohe Investitionen notwendig.

HART ZU KNACKEN Streng regulierte Branchen oder solche mit wenig Raum für neue Geschäftsmodelle tun sich mit Innovationen schwerer.

Versicherungen Die Idee, dass Menschen einen regelmäßigen Beitrag zahlen und Geld bekommen, tritt der abgesicherte Fall ein, hat sich seit dem 18. Jahrhundert bewährt. Zwar gibt es immer mehr Insurtechs, also junge, technikaffine Unternehmen, etwa Wefox, die Apps herausbringen. Doch die große Disruption bleibt in der Branche aus.

Finanzbranche Auch wenn Neobroker und andere Fintechs frischen Wind in den alteingesessenen Bankensektor bringen: Komplett neu erfinden konnten sie ihn nicht. Die Onlinebank N26 stellte ihr Geschäft in den USA wieder ein. Die großen Player hatten in puncto Technologie in der Zwischenzeit aufgerüstet. Bei Geld geht es um Vertrauen – und Kund:innen setzen oft lieber auf etablierte Anbieter.

Gesundheitswesen Healthtechs kämpften lange dafür, dass virtuelle Sprechstunden ermöglicht werden. Die Hürde fiel spät. Kassenpatient:innen konnten die Dienste erst in Anspruch nehmen, als 2020 ein Gesetz geändert wurde. In diesem Bereich erwies sich die Pandemie als Katalysator.

7. Skalierbarkeit

Generell gilt: Am Ende muss eine unternehmerische Innovation natürlich auch finanziell aussichtsreich sein. Gerade Startups sind dafür in der Regel auf das Geld von Investor:innen angewiesen. Und die haben ihre eigene Checkliste, wenn es darum geht, eine Innovation auf Tauglichkeit zu überprüfen. Denn bei aller Sensation: Wenn ein Unternehmen keinen soliden Plan vorlegen kann, eines Tages schwarze Zahlen zu schreiben, wird es schwierig. Das hat zuletzt der ewig klamme Berliner Kurzzeitlieferdienst Gorillas bewiesen, der nun aufgekauft wurde.

„Wir sind nicht auf der Suche nach einer verrückten Idee, sondern nach etwas, für das es langfristig einen großen Markt gibt“, sagt Sylvie Mutschler (59), die in der Schweiz Mutschler Ventures als Teil ihres Family Office betreibt. In ihrem Portfolio befinden sich unter anderen Fintech-Unternehmen und Plattformen wie die Immobilienvermittlung McMakler oder Onlinehändler wie Auto1. Sie entscheidet sich für oder gegen ein Investment, wenn Unternehmen noch jung sind.

Und sie fragt nicht nur danach, ob ein Problem gelöst, ein Produkt oder eine Dienstleistung qualitativ verbessert wird, sondern auch: Ist die Industrie so groß, dass sich die Investition wirklich rechnet? „Oft gibt es Sprunginnovationen eher in kleinen Nischen“, sagt Mutschler. „Aber das lohnt sich für Investor:innen leider nicht. Selbst wenn das Unternehmen dann jedes Jahr um das Dreifache wächst: Wenn es mit wenigen Tausend Euro startet, ist das Investment nicht lukrativ.“ Mutschler schaut also ganz genau hin: Ist der Markt groß genug? Wie sieht der Wettbewerb aus? Funktioniert das Gründungsteam? Ist es mit Begeisterung bei der Sache? Stimmt die Bewertung in Relation zu den erwarteten Umsätzen?

Internationaler Vergleich:

ZAHLEN & FAKTEN

Der globale Innovationsscore ist zwischen 1945 und 2010 um 90 % gesunken.

Der Anteil der Elektrotechnik (Computer) an den Patentanmeldungen ist seit 2016 von 21,7 % auf 29 % gestiegen.

11% der weltweiten Patente mit Wasserstofftechnologien stammen aus Deutschland.

Wo steht Deutschland?

Das ist also die Formel. Aber: Auch die Bedingungen müssen stimmen. Hierzulande wird oft über Hürden geklagt: zu viel Bürokratie, zu viel Regulierung, eine Angestelltenmentalität. „In Deutschland denken wir manchmal zu kompliziert“, sagt Brainlab-Gründer Stefan Vilsmeier. Statt agil zu arbeiten, werde im Management häufig lange im Kreis diskutiert. Die Devise „Losmarschieren und lösungsoffen bleiben“ scheint eher in der US-amerikanischen Mentalität verankert zu sein. So kann dann ein Gigant wie Amazon entstehen.

Im Vergleich zu anderen Wirtschaftsnationen ist in Deutschland außerdem die Bereitschaft, hohe Beträge in revolutionäre Ideen zu investieren, geringer. Während in den USA Milliardeninvestitionen in Technologie und Entwicklung gesteckt werden – auch, um sich im Wettbewerb mit China besser in Stellung zu bringen –, ist man hierzulande zaghafter. Und trotzdem sagt Vilsmeier: „Die Zukunft gehört Europa.“ Er erlebe immer wieder, dass innovativ denkende Fach- und Führungskräfte aus den USA und China Deutschland reizvoll fänden. Dass im Kontext von Kriegen, autokratischen Systemen und teils bröckelnden Demokratien unser freiheitliches Wertesystem den besten Nährboden für Innovationen biete.

Auch Philipp Westermeyer blickt mit Optimismus auf Deutschland als Innovationsstandort: „Wir haben ein gutes Bildungssystem mit hervorragenden Universitäten.“ Warum ist die Zahl der Visionär:innen trotzdem überschaubar? Westermeyer sagt: „In den USA sind große Wetten strukturell häufiger als hier. Es ist ganz simpel auch viel mehr Kapital bei Gründerinnen und Gründern.“ Gemeint ist nicht klassisches Risikokapital oder Ähnliches, sondern Menschen wie Elon Musk, die aus eigener Kraft schon im mittleren Alter massive Mittel haben. „Davon gibt es in Deutschland nicht so viele, in den USA unterhalb von Musk zahlreiche weitere“, erklärt Westermeyer.

Studien zeigen allerdings: Dass Sprunginnovationen seltener werden, ist ein globales Phänomen. „Abgesehen von Tesla und dem ersten iPhone 2007 gab es aus den USA zuletzt auch nicht viel Weltveränderndes, das zugleich hohen Börsenwert hat“, sagt Westermeyer. Und bei neueren Erfindungen wie dem Metaverse oder ChatGPT bleibe der Impact noch abzuwarten. Nachdem Innovationen zuletzt vermehrt darauf abzielten, den Alltag der Endkonsument:innen zu vereinfachen und zu versüßen – siehe Spotify, Uber, Airbnb –, sieht er nun das B2B-Geschäft auf dem Vormarsch. Deutsche Unternehmen wie Personio, die HR-Software entwickeln, oder auch Celonis, die KI für die Industrie nutzbar machen, sind hier auf einem guten Weg. Das macht Mut. Auch wenn es teils noch ein wenig dauert, bis die großen Visionär:innen unseres Landes neue Goldgruben schaffen.

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