Schwerelose Frauenbewegung
STRIVE+ Elf deutsche Astronauten waren bisher im All, sie alle waren Männer. Es wird also dringend Zeit für eine Frau. Auf dem Weg zur ISS herrscht allerdings Stop-and-Go-Verkehr.

Rein technisch betrachtet sind Frauen für die Raumfahrt besser geeignet als Männer. Sie sind in der Regel kleiner und leichter, sie stellen also weniger Startmasse dar und passen besser in die kleinen Kapseln. Auf der Raumstation verbrauchen sie außerdem weniger Nahrung und produzieren weniger Müll. Die Jobvergabe der Europäischen Weltraumorganisation ESA folgte dieser Logik bisher allerdings nicht, immer wieder wählte sie Männer für die spannenden Missionen aus. Für die Ingenieurin Claudia Kessler ist das nur schwer zu ertragen.
Ein Gespräch über ihre Stiftung „Die Astronautin“ kann Stunden dauern, so leidenschaftlich spricht die 55-Jährige über ihre Mission: Sie will die erste deutsche Frau zur ISS schicken, der aktuell einzigen Raumstation im Weltall. In der Astronautin Insa Thiele-Eich (38) hat ihr Team in einem aufwändigen Auswahlverfahren eine von zwei geeigneten Kandidatinnen gefunden und bereits ausgebildet. Doch steht der Ausgang des Vorhabens – das naheliegende Wortspiel sei hier erlaubt – noch immer in den Sternen.
Mitte Februar kam neue Bewegung in die Branche. Die ESA, die Europäische Weltraumorganisation, kündigte ein neues Ausschreibungsverfahren an, es ist das erste seit 2008. Ausdrücklich will man in dieser Runde auch Frauen dazu ermutigen, sich zu bewerben. Das könnte für Auftrieb sorgen, doch allzu optimistisch gibt sich Claudia Kessler nicht. Das heiße nicht, dass dann auch tatsächlich eine Frau an Board gehen würde. Und selbst wenn: „Die Auswahl dauert bis Ende 2022, und dann kommen nochmal vier bis fünf Jahre Training dazu.“ Demnach ginge es also frühestens 2026 ins All. Wenn es nach Claudia Kessler geht, könnte das alles viel schneller gehen.
Medizinische Daten aus dem Weltraum gelten in Deutschland immer nur für Männer
Kessler träumte lange davon, selbst ins All zu fliegen. Ausgelöst wurde ihr Wunsch durch die Mondlandung 1969, die sie als Vierjährige im Fernsehen verfolgte. Als Schülerin werkelte sie in der Werkstatt des Vaters und mochte Fächer wie Mathematik und Physik. Sie studierte Maschinenbau und Raumfahrttechnik. Das Timing zwischen ihrem Leben und den Bewerbungszeiten, in denen die ESA nach geeigneten Kandidaten suchte, passte allerdings nie zusammen: 1990 gab es eine Astronauten-Ausschreibung, als sie gerade im zweiten Semester steckte und mit ihren 23 Jahren laut Bewerbungsbedingungen zu jung war. Jahrelang kamen dann nur noch die Nachrücker dieses Verfahrens zum Zug. Als dann im Jahr 2008 eine neue Ausschreibung veröffentlicht wurde, war sie mit ihren 45 Jahren zu alt. Dem Weltall blieb sie dennoch treu. Kessler heuerte bei verschiedenen Raumfahrt-Unternehmen an, arbeitete zuletzt als CEO in einer Firma, die Personal für Raumfahrt-Unternehmen vermittelte. Sie hält viel von diversen, gleichberechtigten Teams. Im All und auf der Erde. Mehr als die Hälfte der 200 Mitarbeitenden, die sie bisher eingestellt hat, waren Frauen.
Elf deutsche Astronauten waren inzwischen im All, Kessler kennt sie alle persönlich. Jetzt eine Frau zu den Sternen zu schicken, das wäre nicht nur einfach gerecht, es ist auch bitter nötig. Denn medizinische Daten aus dem Weltraum gelten in Deutschland immer nur für die eine Hälfte der Menschen. Die Männer. In Hinblick auf die Zukunft ist das fahrlässig. Ein Beispiel: Nicht nur Elon Musk spricht davon, den Mars zu besiedeln. Auch Kessler hat daran keinen Zweifel. „Das ist einfach unser Menschheitsdrang, wir werden das nicht aus einer Notwenigkeit heraus machen, sondern aus Neugier.“ Spätestens dann, so Kessler, müssen die Frauen ins All. Und deshalb ist es schon jetzt wichtig, zu untersuchen, wie weibliche Hormone auf die Schwerelosigkeit reagieren. Ja, genau – es geht dabei um Fortpflanzung, und die funktioniert ohne Frauen nun einmal nicht. Während man den männlichen Anteil, nun ja, auch anders in den Weltraum mitnehmen könnte.
Also rauf mit den Frauen. Nur wie? Kessler nahm es selbst in die Hand. 2016 gründete sie die Stiftung „Die Astronautin“. Mit Sponsorengeldern will man das Vorhaben unabhängig von der ESA finanzieren. Und tatsächlich: Ihre guten Argumente, der Zeitgeist und eine breit aufgestellte Öffentlichkeitsarbeit haben dafür gesorgt, dass Kesslers Stiftung von Anfang an auf ein riesiges Interesse stieß. „Es vergeht seit fünf Jahren nicht eine Woche, in der ich kein Interview gebe“, so Kessler. „Wir erreichen Frauen, die sich noch nie mit dem Thema Raumfahrt beschäftigt haben. Plötzlich reden sie beim Kaffee darüber.“ Sie wenden sich auch an Kinder, in den Schulen, bei Events, Instagram, Facebook und jetzt auch mit kurzen, persönlichen Videoclips auf TikTok. Mädchen und Jungen sollen sehen, dass es als Frau möglich ist, alles zu tun. Die hoffnungsvolle Rechnung des Stiftungsteams reicht in die Zukunft: Je mehr Mädchen sich zutrauen, technische Berufe zu ergreifen, desto mehr Ingenieurinnen und Wissenschaftlerinnen wird es geben. Und damit auch mehr potenzielle Astronautinnen.
Als Claudia Kesslers Stiftung vor vier Jahren gezielt nach einer weiblichen Kandidatin für eine Weltraumfahrt zur ISS suchte, bewarben sich dann auch mehr als 400 Frauen auf das „Ticket to Space“. Unter ihnen war auch Insa Thiele-Eich. Wenn jemand weiß, was es heißt, sich auf einen Flug ins All vorzubereiten, dann sie.
Ihr Vater, Gerhard Thiele, ist einer der elf deutschen Astronauten, die genau das getan haben. Seine Ausbildung, sein Job, seine langjährige Vorbereitung, die vielen Jahre, in denen der Einsatz nicht kam, hat sie hautnah miterlebt. In dem Ort, der wie kein anderer Synonym für die berühmtesten Weltraummissionen steht: in Houston, Texas. Erst besuchte Thiele-Eich dort die Grundschule, später, als Teenager, kehrte sie zum zweiten Einsatz ihres Vaters zurück, lebte umgeben von Space-Enthusiasten aus der ganzen Welt. „Es war dort selbstverständlich, dass auch Frauen Astronautinnen sind.“ Das erlebt zu haben, empfindet sie als großes Glück.
Dass sie schließlich von Claudia Kesslers Stiftung ausgewählt wurde, auch. Obwohl Glück allein dazu natürlich nicht gereicht hat. Insa Thiele-Eich ist Meteorologin, sie kann mit Konflikten und Stress umgehen, kann sich auf neue Situationen einstellen, ist fit – alle Tests, die psychologischen genauso wie die körperlichen, hatten eines zur Antwort: Sie ist geeignet für den Flug ins Weltall. Sie weiß, wie wichtig es ist, dass sie alles an diesem Job lieben muss: „Nur der kleinste Teil des Astronautenjobs dreht sich um den Flug“, sagt sie. Ihr Vater habe sich in den 80er Jahren beworben, geflogen ist er erst im Jahr 2000. Es wäre also fatal, wenn man nur auf die Mission warte. „Mindestens die Hälfte des Reizes macht bei mir das Training aus, die Freude darüber, das alles erleben zu dürfen, inmitten dieser Raumfahrbegeisterung in dieser Raumfahrfamilie.“ Sie muss lachen, als sie sagt: „Das ist so, als wenn man ‚Greys Anatomie’ guckt und denkt, wow, bei dem Team wäre ich auch gerne dabei!‘“

Die Begeisterung ist greifbar – wie immer, wenn Insa Thiele-Eich und Claudia Kessler über ihre Mission sprechen. Und das tun sie oft. In Klassenräumen, auf Bühnen, in Talkshows. „Singing und dancing“, nennt Kessler das. „Unsere Astronautinnen verdienen sich ihr Geld quasi selbst.“ Gehalt, Ausbildung, alles wird von den eingenommenen Stiftungsgeldern finanziert.
Applaus und Aufmerksamkeit sind den Frauen jedenfalls seit Jahren gewiss. Denn die Mischung aus Weltraum und Gleichberechtigung zieht. Nicht nur bei den Medien oder Space-Fans, auch die Politik interessierte sich für die Idee, die erste Deutsche in den Himmel zu schicken. „Wir waren inzwischen schon bei sieben Ministerinnen und Ministern persönlich“, sagt Kessler. „Haben bei ihnen im Büro gesessen oder auf der Dachterrasse des Reichstags.“ Das Feedback war immer positiv. Man ließ sich gemeinsam mit der Stiftungsgründerin oder den Astronautinnen fotografieren und postete das auch gerne. Doch das Wichtigste, die finanziellen Zusagen, gab es nicht. Rund 50 Millionen Euro kostet der Flug zur ISS, darin enthalten ist das missionsspezifische Training. „Das ist nicht viel“, sagt Kessler.
Zum Vergleich: Jährlich stellt Deutschland der ESA 3,3 Milliarden Euro für ihr Raumfahrtprogramm zur Verfügung. Doch immer, wenn es für die Astronautinnen-Stiftung nach einem Durchbruch bei den politischen Entscheidungsträger:innen aussah, kam ein Rückschlag. Inzwischen hat Kessler das Gefühl, im Wirtschaftsministerium „stellen sie Schränke vor die Türen, wenn sie meinen Namen hören.“
Raumfahrt ist teuer. Sie bringt aber auch viel ein. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat das längst erkannt und ein Grundsatzpapier zum „Zukunftsmarkt Weltraum“ verfasst. „Das Rennen um Technologie-Transfers, Weltraumbahnhöfe und Missionen ist neu entbrannt“, heißt es dort. „Zukunftstechnologien wie autonomes Fahren und Industrie 4.0 basieren auf Innovationen, die im Weltall verankert oder für die Raumfahrt entwickelt wurden.“ Raumfahrt ist also mehr als nur eine kostspielige Sache für Abenteurerinnen und Abenteurer, die sich gerne in ferne Galaxien aufmachen wollen. Raumfahrt begründet einen riesigen Markt, mit dem „New Space“ kann man auf Erden viel Geld verdienen: Satelliten werden Dank Miniaturisierung kontinuierlich kleiner, Klein-, Micro- und Nanosatelliten bieten neues Potenzial. Private Unternehmen und Startups wissen das längst. Sie entwickeln inzwischen unabhängig vom Staat ihre eigenen Technologien. Der Bremer Satellitenbauer OHB beispielsweise hat allein im Jahr 2019 mehr als eine Milliarde Euro umgesetzt. Vielen Menschen sei gar nicht bewusst, dass Raumfahrt viel mehr ist als die spektakulären Flüge ins Weltall: „Ohne Raumfahrt gäbe es keinen Wetterbericht, keine Navigationsgeräte. Dann könnten wir so gerade eben noch telefonieren“, sagt auch Claudia Kessler.

Der Fahrplan zur nächsten ISS-Mission ist unterdessen noch immer nicht geschrieben. Frühestmöglicher Termin ist Mitte 2022. Noch wird ein Platz für eine deutsche Astronautin freigehalten. Das ist sehr kulant vom amerikanischen Partner, Axiom Space. Denn eigentlich hätte die Stiftung schon 25 Millionen Euro anzahlen müssen. Die neue Ausschreibung der ESA habe für sie erst einmal nichts verändert, sagt Kessler, sie mache weiter wie bisher: „Wir sprechen zurzeit mit der ESA, ob es für unsere Astronautinnen – die ja das Basistraining schon abgeschlossen haben – eine Möglichkeit gibt, früher auf einer kommerziellen Wissenschaftsmission zu fliegen.“ Ob sie befürchtet, dass es am Ende doch nichts wird mit der ersten deutschen Frau im All? Kessler zögert, überlegt genau, was sie sagt: „Ich bin davon überzeugt, dass es irgendwann klappt."
"Dass eine deutsche Frau ins All fliegt, ist letztlich ist nicht mehr aufhaltbar.“
Insa Thiele-Eich jedenfalls ist bereit. Sie hat es geschafft: Sie hat einen Flugschein gemacht. Sie absolvierte zwei Parabelflüge, um dort die Schwerelosigkeit zu erfahren, stieg in die Humanzentrifugen im Sternenstädtchen bei Moskau und in die der Bundeswehr, um zu spüren, wie sich die Raketenbeschleunigung auf ihren Körper auswirkt. Sie tauchte in einem Becken in Marseille in einem viel zu großen Unterwasser-Raumanzug. Sie kann sich selbst Blut abnehmen und den Augeninnendruck messen. Sie weiß alles, was man über die ISS wissen muss, wenn man dort in einem Team Experimente abarbeiten will.
Wie fühlt sie sich denn nun an, die Schwerelosigkeit?
Thiele-Eich antwortet so begeistert, als wäre sie all das nicht schon hundert Mal gefragt worden. Man könne sich das vorher nicht vorstellen, erzählt sie. „Das ist alles nicht intuitiv. Man hängt da einfach in der Luft.“ Ein bisschen, als fiele man, wie kurz vor dem Einschlafen.